Essen/Pretoria. Der südafrikanische Anti-Apartheid-Kämpfer und Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela ist tot. Der südafrikanische Präsident Jacob Zuma sagte am späten Donnerstagabend, Mandela sei nach einer Lungenerkrankung friedlich in seinem Haus in Johannesburg eingeschlafen. Er kündigte ein Staatsbegräbnis an und ordnete alle Flaggen im Land auf Halbmast an. Mandela wurde 95 Jahre alt.

Am Ende war er nur noch müde. Nelson Mandela wusste, dass sein Weg zu Ende war, lange bevor im Sommer zunächst mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus musste. Alle hatten Gelegenheit, Abschied zu nehmen. Und doch ertrinkt Südafrika in einem Meer aus Tränen. Es ist schwer, ihn gehen zu lassen. Nicht nur die Familie, alle Südafrikaner haben den geliebten Vater verloren, der ihnen Großes hinterlassen hat – ihre Freiheit. Südafrika weint, und die ganze Welt trauert um einen Jahrhundert-Politiker, der schon zu Lebzeiten seinen Platz in der Geschichte gefunden hatte – gleich neben Mahatma Gandhi und Martin Luther King.

Es war unmöglich, sich der Faszination dieses Mannes zu entziehen. Der frühere US-Präsident Bill Clinton beschrieb es so: „Jedes Mal, wenn Nelson Mandela den Raum betritt, fühlen wir uns etwas größer, möchten wir aufstehen und applaudieren. An unserem besten Tag wären wir alle gern wie er.“

Nach dem Selbstverständnis des Friedensnobelpreisträgers könnten wir das auch. Wir müssten es nur wollen. „Es war eine Entscheidung, für Gleichheit und Freiheit zu kämpfen“, hat er gesagt. Er schrieb 1975 aus dem Gefängnis an seine damalige Frau Winnie: „Vergessen wir nie, dass ein Heiliger ein Sünder ist, der am Ball bleibt.“

Mandela mochte es nicht, als Heiliger verehrt zu werden

Aber Mandela mochte es nicht, als Heiliger verehrt zu werden. Und doch ist er längst einer; eine in Ehren ergraute Ikone, die zur Eröffnung der Fußball-WM 2010 in seiner Heimat schon zu schwach war, um zu winken. Seine dritte Frau Graca Machel, die Witwe des mosambikanischen Präsidenten, stützte ihn. Aber er strahlte, die Menschen erhoben sich von ihren Sitzen. Es war ein Abschied. Das wusste jeder. Und es war einer dieser Mandela-Momente, mit denen er die ganze Welt verzaubert hat.

Für die Südafrikaner ist er sowieso der Größte. Kinder und Jugendliche wählen ihn in Umfragen immer wieder zu ihrem ganz persönlichen Helden und Vorbild – vor Jesus und Superman. Verwundern kann das nicht. Mandela hat Südafrika die Freiheit geschenkt, inneren Frieden, Stolz und Würde. Er hat die „Regenbogen-Nation“ Südafrika versöhnt und zum Leuchten gebracht.

Doch auch Mandela wurde nicht als Held geboren. Er ist an sich selbst und an den Umständen gewachsen. „Rolihlahla“ hat ihn sein Vater genannt. Das bedeutet soviel wie: Einer, der am Ast eines Baumes zieht, ein Unruhestifter also. Das war er auch. Der Sohn einer Tembu-Königsfamilie des Xhosa-Stammes widersetzte sich dem König, als er eine arrangierte Hochzeit ablehnte, und zog nach Johannesburg. Dort eröffnete der Jurist 1952 das erste Anwaltsbüro eines Schwarzen.

27 Jahre seines Lebens war Mandela eingesperrt 

Die Apartheid, die Rassentrennung, war Regierungspolitik der weißen Minderheit im Land, Schwarze waren Menschen zweiter Klasse. Mandela kämpfte gegen die Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Schon 1944 hatte er sich der schwarzen Widerstandsbewegung angeschlossen und wurde Mitglied des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC). Er saß mehrfach im Gefängnis und wurde 1964 wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt.

27 Jahre seines Lebens ist Mandela eingesperrt. 17 Jahre davon als Häftling „466/64“ auf der berüchtigten Insel Robben Island. Seine Zelle, Nummer sieben, ist vier Quadratmeter groß. Er schläft auf einer grauen Decke, ein roter Eimer dient als Toilette. Er arbeitet im Steinbruch, abends studiert er, liest Gedichte, darf pro Monat einen Brief schreiben. Er denkt oft an seine Familie. Seine Tochter Zindzi ist bei seiner Inhaftierung gerade zwei Jahre alt geworden. Als er endlich freikommt, ist sie selbst schon Mutter.

Das Lachen der Kinder war es, so sagt er, was er in seiner langen Haft am meisten vermisste. „Vater eine Nation zu sein“, schreibt er später in seiner Autobiografie, „ist eine große Ehre, Vater einer Familie zu sein ist eine größere Freude.“ Die Ehe mit seiner geliebten Winnie scheitert 1992.

Bitterkeit ist Mandela fremd

27 Jahre weggesperrt. Wie hält man das aus? „Die Zelle ist der ideale Ort, um sich selbst kennenzulernen“, schreibt Mandela in einem der Briefe an Winnie. Bitterkeit ist ihm fremd. Als seine Peiniger ihn aus dem Gefängnis entlassen, sucht er nicht die Rache. Er hasst nicht. „Wer Hass verspürt, kann nicht frei sein“, sagt er. Am 11. Februar 1990 verlässt der Gefangene die Haftanstalt. Mandela ist jetzt 72 Jahre alt. Er schreitet durch das Tor und sieht sich am Beginn eines neuen Lebens - sich und seine Heimat Südafrika, wo immer noch die Rassentrennung herrscht. Er macht die Versöhnung zu seinem Lebenswerk, baut mit dem weißen Präsidenten Frederik de Klerk das Fundament für den friedlichen Übergang und wird 1994 erster schwarzer Präsident Südafrikas. Das Land ist gespalten und voller Misstrauen. Viele Schwarze verlangen Vergeltung. Mandela nicht: „Südafrika gehört allen Menschen, die darin leben“, sagt er.

Mandelas Versöhnungswille ist Teil seiner selbst. Sein Talent, Zeichen zu setzen, ist unerreicht. Er begegnet der Welt mit einem Lächeln, das die Seele berührt und Türen öffnet. Seine Gesten kommen von Herzen und gehen ins Herz. Man fühlt sich sicher in seiner Nähe. Jeder, der das Glück hatte, ihm zu begegnen, erzählt von seiner Herzlichkeit, den warmen, großen Händen, dem Gefühl, ernstgenommen zu werden in genau diesem Augenblick.

Nelson Mandelas Botschaft nach der Haftentlassung: "Ich verzeihe" 

Er hatte eine Gabe. Kurz nach der Haftentlassung trifft er sich zum Tee mit einer alten Dame. Es ist die Witwe von Hendrik Verwoerd, dem Mann, der die Apartheid „erfunden“ hatte. Er plaudert mit ihr, lacht und scherzt. Ich verzeihe, so lautet die Botschaft an die so lange unterdrückten Schwarzen im Land, ihr könnt es auch.

Erzbischof Desmond Tutu, Mandelas langjähriger Wegbegleiter, sagt über seinen Freund: „Mandela ist ein ganz gewöhnlicher Mensch mit einer außergewöhnlichen Begabung.“ So will Mandela gesehen werden.

Der Friedensnobelpreisträger war kein Politiker, der an der Macht klebte, anders als so viele seiner afrikanischen Kollegen. Nach nur einer Amtszeit als Präsident trat er ab, auch wenn es sicher nicht leicht fiel zu sehen, was seine Nachfolger aus seinem Erbe machten. Doch auch er hat als Präsident nicht alles richtig gemacht. Viel zu spät hat er den Kampf gegen Aids begonnen, was viele Südafrikaner mit dem Leben bezahlten. Mit seiner Aids-Stiftung hat et später versucht, es wieder gut zu machen. Es gab auch andere Makel. Die Biografie „Der junge Mandela“ beschreibt ihn als jähzornig und unkontrolliert. Seine erste Frau Evelyn soll er geschlagen haben.

Mandela konnte das Beste in den Menschen zum Vorschein bringen

Die Haft veränderte sein Leben. Bill Clinton hat ihn mal gefragt, warum er nach 27 Jahren im Gefängnis keine Rachegefühle habe. „Sie haben mir alles genommen“, sagte Mandela, „nur meinen Verstand und mein Herz konnten sie mir nicht nehmen. Wenn ich ihnen nicht vergeben hätte, hätten sie auch das bekommen.“ Sein Charme, sein fast spitzbübischer Humor, die innere Gelassenheit und Würde und vor allem der ungeheure Dickkopf halfen ihm. Dazu die Gabe, das Beste in den Menschen zum Vorschein zu bringen. James Gregory ist so ein Beispiel. Er war Mandelas Gefängniswärter. Weiß natürlich. Als sie sich kennenlernten, war Gregory ein rassistischer junger Mann voller Vorurteile. Getrennt haben sich beide als Freunde. Sie waren es bis zu Mandelas Tod.

Auch die Amerikaner haben ihren Frieden mit Mandela gemacht. Zu seinem 90. Geburtstag strichen sie ihn von ihrer Terrorliste. Er stand darauf, weil er 1961 den bewaffneten Widerstand für legitim erklärt, den militärischen Arm des ANC gegründet und in Angola eine Guerilla-Ausbildung erhalten hatte. Die letzten Jahre seines Lebens brauchte er deshalb keine Sondergenehmigung mehr, um in die USA einzureisen. Aber Mandela war längst zu schwach für lange Touren. In den vergangenen Jahren zeigte er sich nur noch ab und zu mit Prominenten, die etwas für seine Aidsstiftung spendeten. Ansonsten lebte er zurückgezogen.

Besonders gern war er zu Hause in Qunu in der Transkei, dort, wo er seine Kindheit verbracht hat. „Je älter man wird“, so sagte er einmal, „desto wichtiger wird es, an jene Orte zurückzukehren, an die man wirklich gute Erinnerungen hat.“ Er hat dort ein kleines Backsteinhaus bauen lassen. Es liegt an einem Hang mit Blick auf die grünen Hügel. Es sieht nicht nur so aus wie das Haus auf dem Gefängnisgelände, in dem Mandela die letzten Jahre seiner Haft verbracht hat. Er hat es nachbauen lassen. Hier in Qunu wollte Mandela auch beigesetzt werden, hat er gesagt. Hier, bei seinen drei verstorbenen Kindern, die nach einem Familienstreit um die letzte Ruhestätte doch wieder zurückgebracht wurden. Hier, wo er als Kind beim Ziegenhüten auf nackten Füßen den Abgang herunter rannte. Hier, wo alles begann, soll es auch enden.