Berlin. Sind die schwarz-roten Finanzpläne wetterfest und überhaupt finanzierbar? Aus Wissenschaft und Wirtschaft melden sich die Fachleute mit schwerwiegenden Bedenken, Finanzminister Schäuble verteidigt die Abmachungen. Die SPD beginnt eine Werbetour bei der Parteibasis.
Nach der Einigung auf den Koalitionsvertrag werden Zweifel an der Finanzierbarkeit der milliardenteuren Ausgabepläne von Union und SPD laut. Der Vorsitzende des Sachverständigenrates der Bundesregierung, Christoph Schmidt, sagte der "Welt" (Donnerstag): "Bis zum Jahr 2017 lassen sich die vorgesehenen Mehrausgaben vielleicht finanzieren, ohne Steuererhöhung und ohne neue Schulden ab dem Jahr 2015 - darüber hinaus jedoch nicht." Die Wirtschaft verwies auf Risiken wegen der Konjunktur. Der amtierende Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) wies Kritik zurück. "Wir haben das wirklich alles solide gerechnet", sagte er am Donnerstag im Deutschlandfunk.
Die im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Vorhaben seien "eine vorsichtige, ehrgeizige, aber realistische Planung", sagte Schäuble. Alle Ausgaben sollen von den jeweiligen Fachbereichen gegenfinanziert werden. Eine Ausnahme seien die "prioritären Maßnahmen", die sich von 2014 bis 2017 auf 23,06 Milliarden Euro beliefen. Schäuble machte klar, dass eine Erhöhung der Rentenbeiträge künftig unausweichlich sei. "Die Rentenbeiträge werden in der Zukunft irgendwann steigen, weil weniger Jüngere mehr Älteren gegenüberstehen."
"Schönwettervereinbarungen"
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben sprach von einem "Schönwetter-Koalitionsvertrag". Das Programm sei nicht darauf vorbereitet, "dass auch Schwierigkeiten wieder ins Haus stehen können", sagte er im ZDF. Das Hauptrisiko bestehe in festgezurrten Ausgaben etwa für Besserstellungen bei der Rente. "Die Ausgaben, die beschlossen sind, die kommen auf jeden Fall. Nur die Einnahmen kommen nur dann, wenn die Konjunktur wirklich gut läuft."
Auch der Chef der sogenannten Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, hält die von Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag geplanten Ausgaben für nicht ausreichend finanziert. "Bis zum Jahr 2017 lassen sich die vorgesehenen Mehrausgaben vielleicht finanzieren, ohne Steuererhöhung und ohne neue Schulden ab dem Jahr 2015, darüber hinaus jedoch nicht", sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrates der Bundesregierung.
Derzeit profitiere die Politik durch die unvermindert wirkende kalte Progression, das extrem niedrige Zinsniveau und ein demografisches Zwischenhoch von drei Sonderfaktoren, sagte Schmidt. Doch diese Sonderfaktoren seien zeitlich befristet: "Von einer ausreichenden Finanzierung der geplanten Mehrausgaben kann daher keine Rede sein."
Irgendwoher müssen Mehreinnahmen her
Dem Wirtschaftsweisen zufolge führen die Pläne für eine abschlagsfreie Rente ab 63 Jahren, eine Mütterrente sowie die solidarische Lebensleistungsrente zu dauerhaften Mehrausgaben. "Sie müssen zwangsläufig über höhere Beiträge, zusätzliche Steuer-Zuschüsse oder eine Absenkung des allgemeinen Rentenniveaus finanziert werden." Insofern sei die Demografie-Festigkeit des Rentensystems "akut bedroht", warnte Schmidt.
Nach Angaben aus Verhandlungskreisen verursachen die Vorhaben der am Mittwoch vereinbarten großen Koalition in der kommenden Legislaturperiode 23 Milliarden Euro Mehrkosten.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband zeigte sich enttäuscht von den schwarz-roten Plänen. Viele wichtige Vorhaben seien "auf dem letzten Meter" wieder herausgeflogen, bedauerte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider im ZDF. Als Beispiele nannte er Hilfen für Kinder aus benachteiligten Familien, Verbesserungen beim Bildungs- und Teilhabepaket sowie Hilfen für Kinder mit Behinderungen.
SPD auf Werbetour
Die SPD-Spitze geht einen Tag nach der vorläufigen Unterzeichnung des Koalitionsvertrages auf Werbetour an ihrer Parteibasis. Zur ersten Regionalkonferenz am Donnerstagabend in Hofheim bei Frankfurt/Main wurde Parteichef Sigmar Gabriel erwartet. Die SPD will ihre knapp 475 000 Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen lassen. Das Ergebnis soll am 14. Dezember feststehen.
Juso-Chef Sascha Vogt sagte, die SPD habe einige wichtige Punkte durchsetzen können, etwa den Mindestlohn. "Ich finde schon, dass man den Koalitionsvertrag den Mitgliedern so vorlegen kann."
Der neue IG-Metall-Chef Detlef Wetzel hob die geplante Rente mit 63 Jahren hervor. "Wer anständig arbeitet, muss im Ruhestand mehr Rente bekommen als jemand, der nicht gearbeitet hat. Und nach 45 Beschäftigungsjahren mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen zu können, ist mehr als gerecht".
Unionsfraktionschef Volker Kauder zeigte sich im Hinblick auf das SPD-Mitgliedervotum optimistisch. "Ich bin fest davon überzeugt, dass die Mitglieder den Vertrag billigen", sagte er. "Zum Glück verteidigen ja die Vertreter aller Parteiflügel die Vereinbarung." (dpa)