Essen. Es war „die Katastrophe vor der Katastrophe“, sagt der Historiker Raphael Gross. Die Pogrome in der Nacht des 9. November 1938 waren eine Menschenjagd, an der sich viele Bürger beteiligten. 1500 Menschen sterben, 31.000 Juden werden in Konzentrationslager verschleppt, 1400 Synagogen brannten.
Der Mob geht planmäßig vor: „Auf Befehl des Gruppenführers sind sofort innerhalb der Brigade 50 sämtliche Synagogen zu sprengen oder in Brand zu setzen. Nebenhäuser, die von arischer Bevölkerung bewohnt werden, dürfen nicht beschädigt werden. Die Aktion ist in Zivil auszuführen.“
Dieser Befehl, der den SA-Brigadeführer in Mannheim am frühen Morgen des 10. November 1938 erreicht, dürfte ähnlich in vielen Städten Deutschlands die Schläger mobilisiert haben. Vor 75 Jahren brannten in der Nacht vom 9. auf den 10. November die Synagogen, Menschen wurden auf die Straße gejagt, verprügelt, verschleppt, Wohnungen wurden zerstört und geplündert.
Tausende Bürger beteiligten sich an Plünderungen
Doch sind es nicht nur die Braunhemden der SA, die prügelnd und marodierend durch die Straßen zogen. Viele Bürger nutzen die Gelegenheit, ihren Hass auf die Juden auszutoben oder sich plündernd zu bereichern. „Es gab viele Menschen, die sich beteiligt haben“, sagt der Historiker Raphael Gross dieser Zeitung. Nach seinen Forschungen beteiligten sich allein in Berlin über 10 000 Angehörige von SS, SA und Hitlerjugend an der Gewaltorgie und noch einmal so viele „plündernde Bürger, darunter viele Frauen“.
Gross kennt Hunderte Aussagen von Zeitzeugen der Ereignisse, darunter die Erinnerung von Heinz Nassau aus Essen. Der beobachtet, wie eine verzweifelte Krankenschwester vor einem brennenden Jugendheim einen Feuerwehrmann fragt, ob dem Verwalter und dessen Familie etwas passiert sei. Der Feuerwehrmann antwortet ihr barsch: „Die können ruhig verrecken. Und machen sie, dass sie fortkommen, sonst werden sie auch kaputtgeschlagen.“
Zwangsarbeit für die 14-Jährige
Das Ruhrgebiet macht keine Ausnahme, wie überall im Land ziehen junge Männer von Haus zu Haus, schlagen alles kurz und klein und ziehen mit Gejohle zum nächsten Tatort. „Judenschwein“ und „Juden raus!“ hallt es durch die Straßen. Jüdische Geschäfte sind mit Farbe markiert, was den Schlägern ihre Arbeit erleichtert. Als die jüdische Mädchenschule der Berliner Schülerin Ruth Winkelmann von SA-Männern gestürmt wird, kann das Mädchen über den Dachboden entkommen. Doch wenig später wird die Schule geschlossen und ihre Familie zerrissen. Die 14-Jährige musste fortan Zwangsarbeit leisten.
Nichts sollte mehr sein wie zuvor, die Menschen verlieren ihre Kindheit, ihr Zuhause, ihre Geschäfte, ihre Zukunft, ihre Angehörigen. Die Hetzjagd dauert tagelang. Nach Schätzungen von Historikern starben etwa 1500 Menschen, zerstört wurden 177 Wohnhäuser, 7500 jüdische Geschäfte und 1406 Synagogen. 31 000 jüdische Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt, die Zahl der Vergewaltigungen kennt niemand. Gross: „Diese Art von Massengewalt in aller Öffentlichkeit und mit Billigung der Regierung ist einzigartig.“
„Da ist ein Damm gebrochen“
Auch in Essen brennt die Synagoge. Das wuchtige Gebäude bleibt jedoch trotz der Bombenangriffe den ganzen Krieg hindurch äußerlich unversehrt – eine mahnende Ruine im Zentrum der Stadt, die still und trotzig an die Schuld erinnerte.
Es war, so Gross, „die Katastrophe vor der Katastrophe“. Denn nun schien alles möglich. „Die Naziführung merkte: Da ist ein Damm gebrochen, so weit können wir gehen. Und es wurden neue Pläne geschmiedet“, sagt Gross. Der Gewaltorgie folgt rasch der behördliche Terror. Jüdische Kinder dürfen keine allgemeine Schule mehr besuchen, Erwachsene keine Handwerksbetriebe führen oder Hochschulen betreten.
Juden sollten zahlen
Besonders perfide: Für das Zerstörungswerk der Nazis sollen die Juden die Kosten übernehmen. Ihnen wurde eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark aufgebürdet. 50 bis 70 Prozent der jüdischen Firmen und Geschäfte wurden bis Ende 1938 „arisiert“, also deren Besitzer faktisch enteignet.
Wer kann, flieht ins Ausland. Die ausländischen Botschaften in Deutschland sind überfüllt mit angsterfüllten Menschen, 180.000 Juden verlassen in den folgenden Monaten ihre deutsche Heimat. Sie zumindest entgehen der systematischen Ermordung der Juden, die drei Jahre später beginnt.
Am 7. November 1938 schoss der junge Jude Herschel Grynszpan in Paris auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Die Naziführung nahm die Verzweiflungstat des Einzelgängers als Vorwand für die Ausschreitungen.
In dem Buch „November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe“ (C.H. Beck) deutet Raphael Gross die Ereignisse. Der Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt promovierte 1997 in Essen und forschte an der Ruhr-Uni Bochum.