Kundus. . In Kundus müssen die afghanischen Soldaten nun ohne deutsche Hilfe für Sicherheit sorgen. Dabei sind die radikal-islamistischen Taliban so stark wie lange nicht. Die Bilanz des deutschen Einsatzes ist trübe, und die Menschen in Afghanistan bereiten sich auf harte Zeiten vor.
In der Festhalle hinter der Residenz des Gouverneurs der Provinz Baghlan wird am Sonntag der „Tag des Lehrers“ gefeiert. Schüler mit weißen Schärpen und weißen Hemden reihen sich unter dem Schatten von Bäumen auf, um zackig den Befehlen von General Azadullah Sherzad, dem Polizeichef der Provinz, zu folgen. „Die Lage ist normal“, sagt der 47-jährige Offizier und zeigt auf die Schüler, „sie versammeln sich ohne Furcht hier.“
Normal bedeutet: 38 Polizisten sind während der vergangenen sechs Monate rund um Pul-i-Kumri bei Angriffen der Taliban ums Leben gekommen. Mit der Ausbildungsqualität durch deutsches Militär und Polizei soll dies nichts zu tun haben. „Die Feinde wagen nicht den offenen Kampf, sie nutzen lieber Sprengsätze und Minen“, sagt Azadullah Sherzad
Aber Zabiullah Rostami, der stellvertretende Vorsitzende des gewählten Provinzrats, malt ein etwas Bild über die Bedrohung. „Seit die Ungarn und die Deutschen hier weg sind, verschlechtert sich die Sicherheitslage langsam aber sicher“, sagt er, „wir haben nicht genug Sicherheitskräfte, um uns zu schützen.“
„Es gibt keine Kontrollen – aber immer mehr Taliban“
Kunduz, wo am Wochenende Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière und Außenminister Guido Westerwelle das deutsche Bundeswehrlager an die afghanischen Streitkräfte übergeben haben, liegt gerade mal eine gute Stunde Autofahrt von Pul-i-Kumri entfernt. Eine Straße, die mit deutschen Entwicklungshilfegeldern gebaut wurde, um die lange Fahrt von ökonomischen Zentrum Mazar-i-Sharif nach Kunduz abzukürzen, wird von Afghanen nicht mehr benutzt. „Es gibt keine Kontrollen, aber Banditen und immer mehr Taliban“, sagt der 19-jährige Taxifahrer Rahmatullah. Polizeigeneral Sherzad gibt zu: „Wir haben mehr Attacken auf Tanklaster, die abgebrannt werden.“ In manchen Fällen binden Taliban die Fahrer an den Rädern fest und lassen sie bei lebendigem Leib verbrennen.
Die Angaben passen in das Bild, das die diesjährige Bedrohungsanalyse des afghanischen Geheimdienstes NDS für ganz Afghanistan zeichnet. Während die ausländischen Streitkräfte einpacken, wollen die Gotteskrieger versuchen, ihre Präsenz zu verstärken.
Das rosige Image vom Einsatz im Hindukusch ist zerstört
Der NDS-Bedrohungsanalyse zufolge sind die Talibanmilizen seit dem Jahr 2009 wieder stärker geworden. Vor der Mobilisierung, in dessen Rahmen US-Präsident Barack Obama 33 000 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan schickte, konnten die Taliban 29 534 Kämpfer zurückgreifen. Gegenwärtig zählt der Geheimdienst 37 306 Kämpfer. Außerdem tragen heute weitaus weniger Gegenden die Bezeichnung „sicher“ als vor vier Jahren. Der milliarden-teure Aufwand der Nato, die hochgelobten Aktionen von Special Forces der USA mündeten demnach zu einer Stärkung der Gotteskrieger.
Afghanistan-DokumenteDer Bericht passt schlecht in das rosige Bild des erfolgreichen Einsatzes am Hindukusch, den die Nato im Rahmen ihres Abzugs aus Afghanistan präsentiert. Auf den Militärakademien der Nato-Staaten werden zukünftig sicher viele Analysen nach dem Grund des Scheiterns fragen. Für die Afghanen liegt eine Antwort auf der Hand. „Die gleichen Leute, die Anfang der 90er Jahre das Land zerstörten, haben heute das Sagen. Wie sollen wir denen vertrauen“, sagt ein 18-jähriger Student, der an der Feier zum „Tag des Lehrers“ in Pul-i-Kumri teilnahm. Die Folgen: werden selbst vor der italienischen Insel Lampedusa deutlich. Unter den Opfern der Flüchtlingskatastrophe sich auch afghanische Frauen und Kinder befunden haben, die der unsicheren Zukunft in der Heimat entgehen wollten.