Berlin. . Regierung oder Opposition? CDU-Politiker appellieren nach der Bundesttagswahl an das historische Verantwortungsgefühl der SPD. Zu Recht? Tatsächlich hat die Partei das Land nie im Stich gelassen. Trotzdem behagt ihr die Opposition. Wiederholt sich die Geschichte?
Regieren oder Opponieren? Während die SPD sich noch mit dem Für und Wider einer Regierungsbeteiligung quält, beginnen die Christdemokraten bereits unsanften Druck auszuüben: Die SPD müsse sich „der staatspolitischen Verantwortung“ stellen und koalieren, drängen führende Unionspolitiker. Wenn sie diese Verantwortung verweigere, beschwöre sie „Weimarer Verhältnisse“ der Unregierbarkeit. Ob die Appelle helfen?
Der Stolz auf das staatspolitische Verantwortungsgefühl ist ein Grundpfeiler sozialdemokratischer Identität seit über hundert Jahren: „Erst das Land, dann die Partei“, so haben die Genossen manche Zumutung ertragen – von den Anfängen der Weimarer Republik bis zur Agenda 2010. Doch die Parteigeschichte ist komplizierter, der Appell an die staatspolitische Verantwortung könnte diesmal ins Leere laufen.
Der Streit der Genossen beginnt im Kaiserreich
Regieren oder opponieren? Der Widerstreit zwischen Pragmatismus und Grundsatztreue zieht sich wie ein roter Faden durch die 150-jährige Geschichte: Reform oder Revolution lautete in den ersten Jahrzehnten die Streitfrage. Erst gibt es deshalb zwei Parteien, und auch nach der Fusion zu der vom Marxisten August Bebel angeführten SPD 1875 tobt der Konflikt als Grundsatzstreit zwischen Revisionisten und Revolutionären weiter. An Regieren ist vorerst ohnehin nicht zu denken.
Der 4. August 1914 bringt die erste Wende: Die SPD stimmt im Reichstag den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg zu. Ein historischer Fehler, aus damaliger Sicht staatspolitisch verantwortungsvoll. Die Sozialdemokraten wollen zeigen, dass sie gute Patrioten sind, nicht „vaterlandslose Gesellen“.
Die SPD ist dei Staatspartei der Weimarer Republik
Nach dem Ersten Weltkrieg wird die SPD sogar die Staatspartei der Weimarer Republik, Treiber der ersten deutschen Demokratie, Friedrich Ebert wird erster Reichspräsident. Mehr Verantwortung in schwerer Zeit geht nicht. Doch die SPD hat, angefeindet von der fundamentaloppositionellen KPD wie von den Bürgerlich-Konservativen, keinen Erfolg. Nach vielen selbstverleugnenden Kompromissen verlässt sie am Ende 1930 die Große Koalition – und stützt dann über eine Tolerierung doch die Minderheitsregierung von Heinrich Brüning (Zentrum) mit ihren Notverordnungen. „An dieser Republik war nicht viel zu verteidigen“, findet der junge Willy Brandt, der sich erstmal von der „vergreisten“ SPD lossagt. Die Enttäuschung wird zur prägenden Erfahrung vieler Genossen, Rückzug ist angesagt.
„Es ist das große historische Unglück der Sozialdemokraten im 20. Jahrhundert, dass sie Gründerpartei einer Republik waren, die kaum gelingen konnte“, bilanziert der Parteienforscher Franz Walter. „Die CDU hatte es 30 Jahre später erheblich leichter. Nicht zuletzt deshalb galt sie lange als eine natürliche Regierungspartei, die SPD als notorische Oppositionspartei.“
Die Partei fremdelt lange mit der Bundesrepublik
In der Bundesrepublik findet die SPD nur mühsam ihre Rolle. Sie lehnt Wiederbewaffnung, Westbindung und auch die Marktwirtschaft anfangs ab. Erst mit dem Godesberger Programm 1959 nimmt sie Abschied von der marxistischen Weltanschauung und wird zur Volkspartei, die nun rasch Regierungsfähigkeit demonstriert. Mit dem Image einer pragmatischen Reformpartei rücken die Sozialdemokraten 1966 als Juniorpartner in eine Große Koalition. Aber sie tun es widerwillig, auch Brandt hat Zweifel. Fraktionschef Herbert Wehner, der Schwarz-Rot einfädelt, wettert dagegen, Opposition sei keine Lösung: „Die Bundesrepublik ist unser eigener Staat, er darf nicht verrotten und hinfaulen.“
Er setzt sich durch. Ein SPD-Parteitag billigt die Koalition schließlich, als die schon ein Jahr lang regiert – nur knapp 60 Prozent der Delegierten stimmen für das Bündnis. Am Ende ist die Regierungsbilanz nicht schlecht, und Brandt wird 1969 Kanzler einer sozialliberalen Koalition.
Die 70er werden die goldenen Jahre der SPD
Jetzt brechen die goldenen Regierungsjahre der SPD an: Reformen, Ausbau des Sozialstaats, eine neue Ostpolitik – der alte Zwiespalt zwischen Sein und Sollen ist überwunden, die SPD auf der Höhe der Zeit. Aber auf den Charismatiker Brandt folgt 1974 der Pragmatiker Helmut Schmidt, der das Land als Krisenmanager durch Wirtschaftsturbulenzen und Terrorbedrohung steuern muss. Die nun stark verjüngte und reformbeseelte SPD folgt immer unwilliger. Sie drängt auf radikale Veränderungen und Sozialstaatsausbau, sie tut sich schwer mit Nato-Doppelbeschluss und Atompolitik.
Als die SPD 1982 die Regierungsverantwortung verliert, sind Teile der Partei regelrecht erleichtert, es kommt zum radikalen Bruch mit Schmidts Politik. Wehner prophezeit hellsichtig 15 Jahre Oppositionszeit, darin richten sich manche Genossen nun gemütlich ein. Vielen fehlt es vorerst an Macht- und Regierungswillen.
Schröder führt die Genossen an die Grenze
Erst Gerhard Schröder gelingt es 1998, die SPD wieder in Regierungsverantwortung zu führen. Die großen sozialen Träume sind in der SPD ausgeträumt, das macht dem Kanzler die Arbeit zunächst leichter: Er packt ungewöhnlich viel an, sein pragmatischer Regierungskurs beschleunigt jedoch den grassierenden Identitätsverlust der Sozialdemokratie. Selbst Kriegseinsätze und Sozialreformen der ersten Wahlperiode werden von der SPD noch bereitwillig gestützt.
Aber als Schröder schließlich die Agenda 2010 durchpeitscht, führt er seine Genossen an die Belastungsgrenze. Die Hartz-Reform ist wirtschaftspolitisch ein Erfolg, für die SPD bis heute ein Trauma. „Erst das Land, dann die Partei“, fordert Schröder. Parteichef Franz Müntefering ruft die Genossen zur Disziplin: „Opposition ist Mist. Lasst das die anderen machen – wir wollen regieren.“ Nicht alle.
Die Große Koalition schafft nur Unzufriedenheit
Spätestens in der Großen Koalition ab 2005 tut sich die verunsicherte Partei nur noch schwer mit der Regierungsverantwortung, das Bündnis ist ungelitten. „Es gibt“, kommentiert Parteienforscher Walter die Stimmung, „eine spezifische sozialdemokratische Mentalität mürrischer Unzufriedenheit.“ Entstanden sei der „oppositionelle Gestus“, weil die SPD ihre längste Zeit in der Opposition verbracht habe. „Mangelnden Stolz auf Leistungen und Errungenschaften“ hält Peer Steinbrück seiner Partei nun vor – so hatte es schon Willy Brandt einst beklagt. Obwohl Schwarz-Rot vier Jahre ordentliche Arbeit macht, profitiert die SPD nicht und erlebt am Ende ein beispielloses Wahldebakel. SPD-Vize Hannelore Kraft warnt deshalb jetzt: „Wir haben nicht besonders gute Erfahrungen mit der Großen Koalition gemacht.“
Aber was heißt das mit Blick auf die staatspolitische Verantwortung, die die SPD noch immer getragen hat? Regieren oder Opponieren? Beweisen, das zeigt die Geschichte, müssen sich die Sozialdemokraten nichts mehr. Soll doch die Kanzlerin ein gutes Angebot machen, heißt es in der Parteispitze. Auch Angela Merkel trage in diesem Koalitionspoker schließlich staatspolitische Verantwortung.