Essen. . Das interne Papier mehrere Polizeipräsidenten in NRW über eine mögliche Änderung der Aufgabenverteilung bei der Polizei hat eine Debatte ausgelöst. Ein Polizeipräsident erklärt, die Liste sei überholt. Experten betonen, bei Verkehrsunfällen und häuslicher Gewalt gehe es nicht ohne die Beamten.

Ob häusliche Gewalt, Blechschäden oder nächtliche Ruhestörung: „Wenn die Polizei gerufen wird, dann kommt sie.“ Mit diesen Worten reagierte NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Donnerstag auf den Bericht unserer Redaktion über ein Papier von Polizeipräsidenten: Die Spitzenbeamten hatten solche Einsätze infrage gestellt. Zwar dürfe es „keine Denkverbote“ geben, wenn es um die Effizienz der Polizei gehe, so Jäger. Doch „die Sicherheit der Menschen steht an erster Stelle“.

Das interne Papier der Polizeipräsidenten hatte bei Experten und in der Politik eine Kontroverse ausgelöst. Die Debatte dürfe nicht zu Lasten der Sicherheit in NRW gehen, sagte der NRW-Innenpolitiker Theo Kruse. Für den Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen in NRW ist es undenkbar, auf Polizeieinsätze zu verzichten, wenn häusliche Gewalt im Spiel ist. „Die Polizei kann eine Wegweisung aussprechen, nach der der prügelnde Mann für zehn Tage die Wohnung nicht mehr betreten darf“, so Marianne Wüste­feld, Geschäftsstellenleiterin des Verbandes. „Das hat Signalwirkung für Frau und Kinder.“

„Das ist eine Kapitulation“

Auch der ADAC NRW ist äußerst skeptisch, ob bei kleineren Unfällen auf Einsatzbeamte verzichtet werden kann. „Das ist eine Kapitulation der Polizei, wenn sie diese Aufgabe nicht mehr abdeckt. Man kann nur noch hoffen, dass nach einem Unfall die Lage nicht eskaliert“, so ADAC-Verbraucherberaterin Elke Hübner. Der Rechtsexperte der Eigentümergemeinschaft Haus und Grund, Manfred Hüttemann, hält hingegen viele Polizeieinsätze bei Nachbarschaftsstreitigkeiten für überflüssig.

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Der Düsseldorfer Polizeipräsident Herbert Schenkelberg betonte, bei der Umstrukturierung werde die Polizei nach wie vor die Belange der Bürger im Auge haben. Das interne Papier vom 18. Juni sei überholt. Der Punkt sei schnell wieder von der Liste genommen worden, um dem Bürger kein falsches Signal zugeben.

Schenkelberg leitet die Arbeitsgruppe der Polizeipräsidenten, die bis Ende des Jahres darlegen will, wie künftig die Polizeiarbeit aussehen sollte. Inzwischen müssten die Beamten mit neuen Anforderungen fertig werden. Als Beispiele nennt der Polizeipräsident die zunehmende Kriminalität durch Rocker und Extremisten sowie die Öffnung der Grenzen nach Osten und die damit verbundene wachsende Zahl an Einbrüchen.

Muss bei Bagatellen immer gleich die Polizei ausrücken? 

Wenn es kracht beim Einparken, wenn an der Ampel der Hintermann auffährt, dann ist meist nur Blech zerbeult. Oft genug sind die Unfallbeteiligen vernünftig und einigen sich. Polizeibeamte müssen dann oft nicht groß schlichten. Doch was ist, wenn die Lage plötzlich eskaliert? Wenn Gewalt im Spiel ist und die Polizei zu spät kommt, weil beim eigentlichen Unfall niemand verletzt wurde?

ADAC-Verbraucherschützerin Elke Hübner erinnert sich an ein ADAC-Mitglied, das sich nach einem Unfall von ihr beraten ließ. „Der ältere Herr erzählte freimütig, er habe kurz nach dem Unfall erst einmal von zu Hause eine Pistole geholt, bevor er weiter mit dem Unfallgegner verhandelte.“ Doch rechtfertigt das vage Risiko, dass jemand durchdrehen könnte, den Einsatz der Polizisten im Straßenverkehr?

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Für den Münsteraner Polizeichef Hubert Wimber sind Unfälle Zeitfresser. Kracht es auf der Straße, gibt es Blechschaden, sind mit der Aufnahme zwei Polizisten ein- bis eineinhalb Stunden beschäftigt. In Münster, so die Berechnungen, nehmen solche Fälle 30 Prozent des Wach- und Wechseldienstes in Anspruch.

27.000 Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt

Ähnlich intensiv werden Beamte bei häuslicher Gewalt oder Nachbarschaftsstreitigkeiten in Anspruch genommen. Mehr als 27.000 Strafanzeigen gingen im vergangenen Jahr wegen häuslicher Gewalt ein. 13.000 Mal mussten Beamte ein prügelndes Familienmitglied aus der gemeinsamen Wohnung wegweisen. „Ohne Polizeibegleitung ginge das gar nicht“, sagt Marianne Wüstenfeld, Geschäftsstellenleiterin des Dachverbandes der autonomen Frauenberatungsstellen NRW. Die Beamten signalisierten Frau und Kindern: Wenn der Ehemann und Vater prügelt, dann begeht er eine Straftat. Auch kleinen Kindern sei klar: „Das darf der nicht“.

Zuständig für diese Fälle sind 50.000 Landesbedienstete in 47 Kreispolizeibehörden, beim Landeskriminalamt (LKA) und bei zugeordneten Behörden. Zu ihren Aufgaben gehören auch die unzähligen Einsätze bei nächtlicher Ruhestörung, die Drogenfahndung, Mord­aufklärung oder auch die Sicherung der Bundesliga-Spiele. Zurzeit macht die wachsende Zahl von Einbrüchen den Beamten zu schaffen. Obendrein gilt es, Rockerbanden zu bekämpfen oder die Terrorgefahr einzudämmen.

1400 Beamte bereisen jedes Wochenende die Bundesliga 

Kann es sich die Polizei angesichts dieser Aufgabenvielfalt noch leisten, 1400 Beamte jedes Wochenende zu Fußballspielen zu schicken? Gefürchtet sind vor allem die Spiele der zweiten und dritten Ligen, denn hier gibt es die meisten Rangeleien. Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft hat ausgerechnet, dass die Bundesliga jedes Jahr 50 Millionen Euro zahlen müsste, würde sie für die Fußballeinsätze zur Kasse gebeten.

Wird sie aber nicht. Die Politik wehrt sich dagegen. Und genau an dieser Stelle beginnt die Debatte: Was soll die Polizei auf Kosten des Steuerzahlers tun und was nicht?

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Über diese „Aufgabenkritik“ wird nicht erst seit Donnerstag gestritten. Schon 1993 forderte die CDU im NRW-Landtag „eine Aufstellung sämtlicher Aufgaben, die nach Auffassung der Landesregierung nicht zwingend von der Polizei wahrgenommen werden müssen“. Die SPD wurde bei dem Thema noch konkreter: „Umfang und Notwendigkeit der Beteiligung der Polizei bei der Aufnahme von Verkehrsunfällen und bei kommerziellen Großveranstaltungen“ wollte sie von der eigenen Landesregierung erfahren. Passiert ist: wenig.

Privatfirmen begleiten Transporte

Inzwischen machen andere Bundesländer vor, wie die Ordnungshüter von Bagatellen entlasten werden können. So lassen Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ihre Po­lizisten keine Schwertransporte mehr begleiten. Ein Anfang. „Kann der Unternehmer nicht selbst dafür verantwortlich sein?“, fragt Münsters Polizeichef Wimber: „Es gibt sachverständige private Firmen, die das gegen Bezahlung regeln.“ Auch Düsseldorfs Polizeipräsident kann sich eine solche Lösung vorstellen.

Klar ist: Irgendwo wird es Abstriche geben. Doch während im Juni die Arbeitsgruppe der Polizeipräsidien noch freimütig über die Streichung von Einsätzen bei Familien- und Nachbarschaftsstreitigkeiten sprach und darüber nachdachte, bei Blechschäden die Unfallgegner sich selbst zu überlassen, sind diese Vorschläge nach der großen öffentlichen Empörung vom Tisch.