Essen. Politiker müssen Vorbilder sein. Dass ihr Handeln strenger durchleuchtet wird als beim Durchschnittsbürger, muss ihnen klar sein. Die Veröffentlichung von Vorwürfen gegen Lammert ist kein Denunziantentum - sondern erfüllt eine gesellschaftlich notwendige Funktion. Ein Kommentar.

Plagiate-Jagd, nächster Akt: Ein Blogger wirft Bundestagspräsident Norbert Lammert vor, bei der Doktorarbeit gemogelt zu haben. Der anonyme Mann stellt detailreich dar, welche Passagen der Dissertation er für fragwürdig hält und warum. Dieser Schritt - das Herstellen einer Öffentlichkeit für diese Vermutungen - ist richtig.

Ebenso richtig, wie es im Fall von Karl Theodor zu Guttenberg war. Oder von Annette Schavan. Dass Lammerts Arbeit bereits im Jahr 1974 veröffentlicht wurde, darf keine Rolle spielen. Denn sollten sich die Vorwürfe als wahr erweisen, gilt: Ein Plagiat bleibt ein Plagiat. Und der Titel bleibt erschlichen. Egal, wann das geschah.

Politiker stehen in der Öffentlichkeit. Sie erfüllen eine Vorbildfunktion. Und reklamieren nicht selten für sich die Position einer höheren moralischen Instanz, eines Volksgewissens. Wer sich in einen solchen Job begibt, muss sich gefallen lassen, dass sein Handeln durchleuchtet wird. Und dass der Verdacht von Unregelmäßigkeiten öffentlich gemacht wird.

Internet als seriöse Plattform für Veröffentlichungen

Das Internet bietet dabei eine Plattform für Veröffentlichungen, die es früher so nicht gab. Mit allen Vor- und Nachteilen. Zu ersteren gehört ein unendliches Platzangebot. Und damit die Option von umfassender, tiefgreifender Darstellung. Zu den Nachteilen gehört die Möglichkeit anonymer Veröffentlichung - was die Einstiegshürde ins Denunziantentum vielleicht herabsetzt. Das macht natürlich eine umso sorgfältigere Prüfung erhobener Vorwürfe erforderlich.

Andererseits ist die Netz-Anonymität in großem Maße Illusion. Käme es hart auf hart - stellte Lammert etwa Strafanzeige - ließe sich der betreffende Blogger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermitteln. Die Frage, ob der Mann seine Beschuldigungen (vermeintlich) namenlos oder mit vollem Namen veröffentlicht, ist letztlich eine Stilfrage.

Kritik am gewählten Weg der Anonymität kann berechtigtet sein. Nicht jedoch an der Veröffentlichung selbst. Unterm Strich hat hier jemand umfangreiche Recherchen betrieben zur Doktorarbeit eines bekannten Politikers. Dabei sind ihm Unregelmäßigkeiten aufgefallen, die er nun öffentlich macht. Und die ein Prüfverfahren nach sich ziehen.

Wären wir in den 80er-Jahren und hätte der Mann seine Recherchen als große Story in einem Printmedium oder im Fernsehen veröffentlicht - wäre er dann als Denunziant beschimpft worden? Wohl nicht. Eher wäre er als investigativer Journalist gefeiert worden. Mit Recht.