Berlin. Nach einem dreitägigen Beratungsmarathon ziehen die Piraten mit einem erweiterten Wahlprogramm und einer erneuerten Spitze in den Bundestagswahlkampf. Die rund 1200 Teilnehmer des Parteitags in Neumarkt beschlossen am Sonntag weitere Teile ihres Programms.

Bei der Piratenpartei herrscht ein ruppiger Umgangston. Wagt sich ein Freibeuter zu weit aus dem Fenster, droht ihm ein übler Shitstorm im Internet von der Basis. Dann wird nach Leibeskräften gestänkert, gepöbelt und beleidigt. Parteichef Bernd Schlömer – mal als „Arschloch“ mal per Mittelfinger verunglimpft - kann davon ein langes Klagelied singen. Ganz zu schweigen von dem ehemaligen politischen Geschäftsführer Johannes Ponader.

Bei Katharina Nocun ist das offenbar anders. Sie habe Shitstorms noch nicht erlebt, erzählt die 26-Jährige mit zaghafter Stimme - fast so, als wäre ihr das unangenehm. Man darf gespannt sein, wie lange die piratische Höflichkeit bestehen wird. Denn am Freitag hatten die Freibeuter zum Start ihres dreitätigen Parteitags in Neumarkt die Netzaktivistin aus Niedersachsen zur neuen politischen Geschäftsführerin gewählt. Willkommen im Haifischbecken der Freibeuter.

Datenschutz-Spezialistin Nocun hat sich mit nüchterner Sachpolitik profiliert

Nocun ist seit einem Jahr Mitglied bei den Piraten und hat sich im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung mit nüchterner Sachpolitik profiliert. Auf die selbst ernannte „Idealistin“, die ein Traumergebnis von 81,7 Prozent eingeheimst hat, wartet nun eine Herkulesaufgabe. Die Politikstudentin und Online-Redakteurin soll der gebeutelten Partei in ihrer tiefsten Krise wieder Wind in die Segel bringen für die Bundestagwahl. Auch wenn Nocun keine Identifikationsfigur sein möchte, hofft man an der Basis, dass sie in die Fußstapfen der bekanntesten Piratin treten wird. „Ich traue ihr zu, dass sie eine ähnliche Performance hinlegt wie Marina Weisband“, sagt NRW-Piratenfraktionschef Joachim Paul der WAZ Mediengruppe.

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Tatsächlich erinnert Nocun, die mit drei Jahren von Polen nach Deutschland zog, ein wenig an ihre Vor-Vorgängerin im Amt. Die Studentin der Politik, Philosophie und Wirtschaftsinformatik ist eloquent und kann die Basis begeistern. „Ich möchte, dass wir uns verdammt noch mal zusammenreißen“, liest sie den rund 1000 Freibeutern in einer leidenschaftlichen Bewerbungsrede die Leviten. Jubel im Saal. Auch das Einprügeln auf die politische Konkurrenz beherrscht die Tochter einer Datenbank-Administratorin und eines IT-Projektmanagers. Dort stünden „Mitarbeit und Transparenz doch nur auf dem Etikett“. Zugleich scheint Nocun diplomatisch genug, um, anders als Ponader, manches Fettnäpfchen auch auszulassen. Ein Beispiel: Johannes' Amtszeit sei in eine sehr schwierige Periode gefallen. Sie habe „großen Respekt“ vor dem, was er geleistet habe, diktiert sie den Journalisten auf ihrer ersten Pressekonferenz in die Blöcke. Nur kein weiteres Öl ins Feuer gießen, Kritik kommt allenfalls indirekt.

Viele sehen in Ponader einen Hauptverantwortlichen für den Piraten-Absturz

Andere Piraten reden dagegen Klartext: „Johannes hat uns mit in die Scheiße geritten“, sagt NRW-Pirat Udo Vetter der WAZ Mediengruppe. Vize-Parteichef Sebastian Nerz – „begeistert“ über die Nocun-Wahl – will zu Ponader gar nichts sagen. Viele Piraten sehen in dem 36-jährigen Lebenskünstler mit dem 1,0-Abitur und dem Hang zur Vielliebe einen Hauptverantwortlichen für den beispiellosen Absturz der einstigen Überflieger. Für Wirbel hatte etwa dessen Forderung nach seinem persönlichen Grundeinkommen durch die Mitglieder gesorgt. Zuletzt hatte sich Ponader mit dem Vorstand völlig überworfen, galt dort als isoliert und beratungsresistent. „Wo ich etwas falsch gemacht habe in diesem Jahr, möchte ich euch um Entschuldigung bitten“, sagt der Gescholtene und beendet seine Abschiedsrede etwas theatralisch: „Ich bin Johannes Ponader, ich bin Basispirat.“

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Freilich wäre es viel zu billig, Ponader allein dafür verantwortlich zu machen, dass die Freibeuter im Bund von 13 auf bis zu zwei Prozent abgestürzt sind. Zuletzt hat die junge Partei fast nur noch durch Personaltheater und Strategiestreitereien von sich reden gemacht. Auf dem letzten Parteitag in Bochum war sie inhaltlich kaum vorangekommen. Zudem haperte es bisher bei der innerparteilichen Partizipation und schnellen Wegen zur Meinungsfindung. Nun droht auch noch die Alternative für Deutschland (AfD) im Becken der Piraten zu plündern – bei den Protestwählern. Als wäre dies nicht bitter genug, gibt Christian Jacken, ein Kandidat der den Geschäftsführerposten, auf offener Bühne bekannt, dass er auch der AfD beitrete. Er müsse dies tun, damit das „Euro-Betrugssystem“ beendet werde. „Bei den Piraten gibt es zu wenig kritische Finanzexperten“, begründet Jacken seinen Schritt gegenüber der WAZ Mediengruppe.

Piraten haben Parteiprogramm auch auf Gesundheits-, Sozial- und Außenpolitik erweitert

So ging es auf dem Parteitag in Neumarkt auch um die Zukunft der Piraten und einen Neuanfang. Bei ihren dreitägigen Beratungen arbeiteten sich die Piraten durch mehr als 250 Anträge für ihr Wahlprogramm. Die rund 1200 Teilnehmer des Parteitags beschlossen am Sonntag weitere Teile ihres Programms, darunter zur Asyl- und EU-Politik. Sie beschlossen Positionen zu Kernthemen wie Netzpolitik, Bürgerrechte im Internet und Urheberrecht, aber auch zur Sozial-, Gesundheits- und Außenpolitik - Themen, bei denen die Haltung der jungen Partei bislang nur wenig bekannt ist. Unter anderem einigten sich die Piraten darauf, dass bis zur Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens ein gesetzlicher Mindestlohn zwischen 9,02 und 9,77 Euro eingeführt werden soll.

Piraten-Chef Bernd Schlömer rief die Piraten am Sonntag zu einem engagierten Wahlkampf auf: Es sei jetzt an der Zeit, Spaß zu haben und Freude zu zeigen: "Piraten, auf in den deutschen Bundestag." Die neue politische Geschäftsführerin Nocun sagte, mit dem erweiterten Programm hätten die Piraten jetzt auch Antworten auf Fragen, "auf die wir bislang keine Antworten hatten". Die Partei war nach ihrem Einzug in vier Landtage in den Umfragen abgestürzt, in einer von der "Bild am Sonntag" veröffentlichten Emnid-Umfrage erreichten sie erneut nur vier Prozent.

Antrag für Einrichtung von ständiger Mitgliederversammlung gescheitert

Eine ständige Online-Mitgliederversammlung wird es bei den Piraten vorerst wohl nicht geben. In Neumarkt scheiterte ein Antrag knapp, der auf die Einrichtung eines online tagenden Parteitags zielte, der verbindliche Stellungnahmen und Positionen formulieren könnte. Für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit fehlten 23 Stimmen. Über zwei noch weitergehende Anträge sollte in Neumarkt erneut abgestimmt werden, ein Ja galt jedoch als unwahrscheinlich.

Für diese sogenannte SMV hatte auch Parteichef Bernd Schlömer geworben. "Das sind Tools, die wir in der deutschen politischen Landschaft einpflegen sollten", sagte er vor Journalisten. Die Mehrheit für den Konsensantrag lobte er als "gutes Ergebnis", das die Grundlage für weitere Diskussionen über das Thema lege.

Die Piraten wollen den Abwärtstrend auf diesem Wege mit Hilfe ihrer neuen Hoffnungsträgerin stoppen. Die wollte eigentlich ihre Masterarbeit schreiben. Doch nun hat Nocun Wichtigeres zu tun – und dafür schon einmal die Marschrichtung vorgegeben. Die Piraten würden sich „den Arsch aufreißen, um die anderen anzugreifen.“ Wenn das mal ausreicht… (mit afp)