Berlin. . Jeden Tag streiten sich Schreiber auf der Online-Enzyklopädie Wikipedia über die richtige Wortwahl. Oft reicht ein Foto, um einen Autorenkrieg loszutreten. Auch die Einträge über Politiker ändern sich laufend. Besonders im Wahlkampf.
„Unsere Darstellung auf Wikipedia hat sich in den vergangenen Tagen massiv verschlechtert. Deshalb sehen wir uns gezwungen, diesen Fall an unsere Anwälte in den USA und Deutschland weiterzuleiten.“ Wie eine leere Drohung liest sich die E-Mail an Benjamin Mako Hill keineswegs. Dem Wikipedia-Autor könnte wegen seiner Beiträge im Online-Lexikon ein Brief vom Anwalt drohen. Dabei hatte er nur die Qualität eines Artikels angezweifelt und bessere Quellennachweise gefordert - Alltagsgeschäft bei Wikipedia.
Der Streit um den inzwischen gelöschten Artikel über das in Berlin ansässige „Institute for Cultural Diplomacy“ (ICD) ist nur einer von unzähligen Autorenkriegen, die bei Wikipedia jeden Tag geführt werden. Der „Edit War“ zeigt, zu welchen Mitteln einige der Beteiligten im Kampf um ihre bevorzugte Darstellung greifen. Für Politiker können kritische Passagen gerade in Wahlkampfzeiten zum Stolperstein werden - und die Tilgung solch unbequemer Einträge zum Aufreger. So zuletzt auch in Frankreich, wo der Inlandsgeheimdienst einen Beitrag über eine militärische Sendeanlage verschwinden lassen wollte und prompt die Aufmerksamkeit vieler Medien auf sich zog.
Enorme Reichweite von Wikipedia
Steht ein Wahlkampf auf Wikipedia bevor? „Die Artikel über die Kandidaten für den Bundestag werden mit Sicherheit in den nächsten Monaten häufiger hin und her editiert“, sagt Kommunikationsberater Arne Klempert. Denn die Reichweite von Wikipedia ist enorm. Aus der einst als Laien-Lexikon belächelten Plattform ist das führende Nachschlagewerk im Internet geworden: 25,2 Millionen Artikel in mehr als 280 Sprachversionen zählt die Enzyklopädie mittlerweile. 500 Millionen Leser aus der ganzen Welt besuchen Wikipedia jeden Monat. Und viele Wähler verschaffen sich mit dem Klick zum „Wiki“ einen ersten Überblick zu Kandidaten und ihrem politischen Programm.
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Über kritische Passagen zu SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück wird derzeit fast täglich gestritten. Der Artikel sei nicht neutral, sondern mit negativem Zungenschlag geschrieben, bemängelt ein User. Während Steinbrück mit eher grimmiger Mine auf einem Schnappschuss von 2012 zu sehen ist, ziert den Eintrag über Bundeskanzlerin Angela Merkel ein wohl gestelltes Foto in freundlicher Pose. Auch um diese Bilder ist längst ein Streit ausgebrochen - das Foto der Kanzlerin sei marketingtauglich, heißt es, der Herausforderer wirke dagegen unsympathisch. User „Richard Zietz“ widerspricht: „Sind wir dafür zuständig, uns um die Sympathie für den Mann zu kümmern?“
PR-Berater stehen zur Seite
Längst stehen Werbeagenturen beratend zur Seite, wenn es darum geht, das Image von Kunden im Online-Lexikon aufzupolieren. Auch Politik-Berater und PR-Strategen wissen um die Macht Wikipedias. Doch da sämtliche Änderungen („Edits“) dokumentiert und diese teils bis zum Internetanschluss des Bearbeiters zurückverfolgt werden können, ist Vorsicht geboten. Wachsame Administratoren hüten die Artikel und merken schnell, wenn entscheidende Sätze geschönt oder oft gestrichen werden – wie etwa beim damaligen CDU-Herausforderer Jürgen Rüttgers im 2005 geführten Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen.
Einflussnahme professioneller Schreiber
Nicht in der gezielten Steuerung durch PR-Büros im Wahlkampf, sondern bei den Sympathisanten auf informeller Ebene liege das Problem, sagt Klempert, der zuvor Sprecher der deutschsprachigen Wikipedia war. Ungefilterte Wahlparolen müssten die Wähler deshalb aber nicht fürchten. „Das ist ein normales Phänomen, dass diese Artikel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Dadurch wird das Korrektiv auch größer.“ Woher die Änderungen kämen, sei häufig aber schwer zu greifen. Ein Nutzer hat nach dem „Edit War“ um SPD-Herausforderer Steinbrück deshalb resigniert und schreibt: „Was aktuelle politische Themen und Personen angeht, habe ich die Wikipedia aufgegeben.“
Pavel Richter, Geschäftsführer des Vereins Wikimedia Deutschland, der hinter der deutschsprachigen Version steht, befürchtet keine steigende Einflussnahme durch professionelle Schreiber. Diese Fälle seien vor allem „peinlich“ – für diejenigen, die erwischt werden. (mit dpa)