Essen. Kindererziehung ist nur Elternsache? Das war einmal. Immer häufiger kommen Mitarbeiter der Jugendämter ins Haus und holen den Nachwuchs aus den Familien. Die Zahlen steigen dramatisch an, weil Vater und Mutter oft einfach überfordert sind. Das steht in einem Bericht der Bundesregierung.

Der Fall Kevin hat die Republik erschüttert. Im Oktober 2006 fanden Jugendamts-Mitarbeiter im Kühlschrank einer Wohnung in Bremen-Gröpeling die Leiche des Dreijährigen. Sein Vater, ein Drogenabhängiger, wurde wegen Misshandlung und fahrlässiger Tötung in Haft genommen.

Die Ämter hatten frühzeitig Informationen darüber, dass in diesem Haushalt etwas nicht stimmte. Doch sie gaben der Obhut des Kindes in der Familie den Vorrang. Ein tödlicher Fehler.

Behörden gucken genauer hin

Seither gucken die Behörden deutschlandweit genauer hin. „Vorläufige Schutzmaßnahmen“ werden Alltag. 32 253 Mal kamen die Fürsorger im letzten Jahr in Wohnungen, um die Minderjährigen in Obhut zu nehmen – 4100 Fälle mehr als 2007, und gegenüber 2006 noch einmal eine Steigerung um 26 Prozent. Die Ämter schützen Mädchen häufiger als Jungen.

Anlässe gibt es genug: In 44 Prozent der Fälle sind Eltern oder Elternteile schlicht überfordert. Beziehungsprobleme spielen, mit sinkender Tendenz, noch in 22 Prozent eine Rolle. Hinweise für Vernachlässigung und Anzeichen für Misshandlungen sind zwar eher seltener, werden jedoch wegen eines deutlich steigenden Anteils sehr ernst genommen.

„Die Interventionen aufgrund von Anzeichen der Kindermisshandlung haben besonders deutlich zugenommen“, räumt das Familienministerium ein. Innerhalb von zehn Jahren ein Sprung von drei auf zehn Prozent.

Viele sind sensibler

In fast der Hälfte der Fälle kommt die Warnung von den Jugendämtern selbst oder sozialen Diensten, die Verdacht schöpften.

Warum die Aufmerksamkeit gewachsen ist? Zum einen: Es hat eben dramatische Vorgänge gegeben wie den Fall Kevin im Bremer Brennpunkt. Die Schlagzeilen haben den Druck auf die Politik erhöht, zu handeln. Aber auch: Das öffentliche Bewusstsein dafür ist gewachsen, „dass es eine gesellschaftliche Aufgabe ist, Kinder vor Vernachlässigung und Misshandlungen zu schützen“, schreibt das Bundesfamilienministerium auf eine Anfrage von FDP-Abgeordneten.

Weiter: „Nicht nur Fachkräfte entwickeln eine höhere Sensibilität für Gefährdungssituationen, sondern auch Dritte wenden sich mit Hinweisen schneller an die zuständige Behörde“. Was in Berlin auch als durchaus nachvollziehbar eingeschätzt wird, denn Wissenschaftler stufen die langfristigen Gefährdungen durch eine falsche Erziehung „als akuter und schwerwiegender ein, als dies bisher der Fall war“.

Klares Nord-Süd-Gefälle

Besorgnis erregend: Offenbar leben im Norden der Republik mehr solcher Problemfamilien als im Süden. Die Statistiken zeigen ein klares Nord-Süd-Gefälle, wenn Kinder in Obhut der Jugendbehörden genommen werden müssen. In Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern mischen sich die Jugendämter am stärksten in die Familienleben ein. Auf 10 000 Kinder in Bremen kamen alleine 2008 47 Fälle, in Hamburg 45. Bayern hingegen meldet gerade 11, auch Rheinland- Pfalz und Baden-Württemberg operieren mit 13 und 14 Eingriffen sehr vorsichtig. Nordrhein-Westfalen nimmt mit 29 Fällen je 10 000 Kinder einen Mittelplatz ein, noch vor Berlin.

Der Staat richtet es also, die Steuerzahler bezahlen den Jugendschutz, der sich immer häufiger auch auf Kinder unter drei Jahren erstrecken muss: Zwischen 2005 und 2007 ist eine Zunahme der kommunalen Ausgaben für vorläufige Schutzmaßnahmen erkennbar. 95,9 Millionen Euro gaben Städte und Gemeinden dafür 2007 aus – 26 Prozent mehr als noch zwei Jahre zuvor. Und diese Ausgaben könnten weiter steigen. Denn immer öfter kehren, vor allem ganz junge, Kinder nicht in die Familien zurück. Mit nur 44 Prozent ist es eine Minderheit. Die anderen bleiben bei Pflegeeltern oder in Heimen. Es ist der neue gesellschaftliche Trend.