Essen. Familie S. hat schon viel mitgemacht: Mit Tod, sexuellem Missbrauch, einem versuchten Selbstmord, Drogen und Straftaten haben Maria S. und ihre Kinder schlimme Erfahrungen gemacht. Momentan schlägt die 16-jährige Laura über die Stränge. Die Essener Sozialpädagogin Barbara Köhler will helfen.
Richtig viel ist im Leben von Maria S. nicht gut gelaufen. Schwierigkeiten mit dem Gesetz zwangen sie vor knapp 20 Jahren dazu, ihre damals drei Kinder dem Vater zu überlassen. Der jedoch ließ den noch kleinen Kindern allzu große Freiheiten, in die Schule mussten sie nicht. Der Vater feierte derweil Orgien und verging sich, sagt Maria S. traurig, an der zweitältesten Tochter. Davon scheint diese sich bis heute nicht erholt zu haben, obwohl sie bereits einige Zeit nach dem Missbrauch zusammen mit den Geschwistern wieder zu ihrer Mutter zurückkonnte.
Die Mutter hatte allerdings einen neuen Mann. Für kleinere Kinder oft eine Katastrophe, müssen sie doch aus ihrer Wahrnehmung heraus die Liebe der Mutter mit dem Mann teilen. Erschwerend kam hinzu, dass die Mutter von dem neuen Mann noch einmal schwanger wurde. Ein weiterer „Kontrahent“ im Wettstreit um die mütterliche Liebe. „Maria S. hat bis heute tierische Schuldgefühle. Sie hat stets versucht, die Zeit, in der sie ihre Kinder allein lassen musste, wieder gut zu machen. Sie hat nur wenige Grenzen gesetzt, die Kinder haben das ausgenutzt“, erklärt Barbara Köhler, Sozialpädagogin und Psychotherapeutin vom Essener Verein „Sozialpädagogische Familienhilfe“. Sie ist bereits zum zweiten Mal in der Familie. Das erste Mal kam sie kurz nach dem Tod des zweiten Mannes, denn die Mutter war in tiefe Depressionen gestürzt.
Gesprächspartnerin für verzweifelte Mutter
Immer wieder sprach Barbara Köhler mit Maria S. über den verstorbenen Mann, versuchte mit zahlreichen Einzelgesprächen aber auch, die Familie zusammenzuhalten. Und ermunterte die Mutter, für ihre Kinder stark zu sein und auch Grenzen zu setzen. Nicht ständig für ihre Kinder verfügbar zu sein, sich einfach mal eine halbe Stunde Auszeit zu nehmen, Kraft zu tanken. Denn die zweitälteste Tochter, die vom leiblichen Vater sexuell missbraucht worden war, versuchte sich das Leben zu nehmen. Barbara Köhler weitete ihre Arbeit auf die Tochter aus, kam aber nie wirklich an sie heran. Irgendwann verschwand die Tochter einfach, nach Südosteuropa. Zur Ruhe kam die Familie nicht.
Denn immer wieder kam es zu Konflikten. „Ein Jahr nach dem Tod meines zweiten Mannes ist dann der leibliche Vater meiner Kinder gestorben“, erzählt Maria S. Die Kinder trauerten, die Mutter konnte das nicht verstehen, hatte „dieser Mistkerl“ den Töchtern doch so viel angetan. Barbara Köhler griff ein und erklärte der Mutter, dass der Vater auch gute Seiten hatte und die Kinder ihn deswegen liebten. „Viele Eltern haben den Anspruch, dass ich ihr Kind reparieren soll, wenn ich in die Familie komme“, sagt Köhler. „Mein Schwerpunkt liegt aber auf der Elternarbeit. Denn die Ursache für viele Probleme liegt in den eigenen Verletzungen der Eltern, die sie an ihre Kinder weitergeben.“
Irgendwann hielt die Sozialpädagogin nur noch losen Kontakt zur Familie, die zweitälteste Tochter weilte immer noch in Südosteuropa. Die zwei jüngeren Töchter waren zu Hause bei der Mutter. Laura, die ältere von ihnen, war ein liebes Mädchen, ziemlich intelligent, ging zur Schule. Doch vor eineinhalb Jahren kam die Schwester aus Südosteuropa zurück, war mit ihren ganzen Problemen wieder Mittelpunkt und zog die komplette Energie der Mutter auf sich. „Das hat Laura aufgefressen. Sie dachte, endlich ist die Zeit gekommen, wo sie dran ist und die Zuwendung von der Mutter bekommt. Sie musste ja immer hinter der zweitältesten Tochter zurückstehen“, erklärt Köhler.
Tochter driftet ab
Die heute 16-jährige Laura fing an zu kiffen, überfiel am Bahnhof eine Studentin und klaute ihr das Handy, kam in den Jugendarrest und wenig später in den Beugearrest, weil sie die aufgebrummten Sozialstunden nur sehr zögerlich abarbeitete. Für’s Schwarzfahren in der Bahn gab es erneute Sozialstunden. Weil Laura nicht gerade auf den Mund gefallen ist, legte sie sich mit mehreren Betreuern an und musste die Einrichtungen wechseln. In der letzten Einrichtung, in der es ihr gut gefiel, klaute sie einer Betreuerin 200 Euro aus dem Portmonee. Ihren Hauptschulabschluss versucht sie derzeit in einem Werkstattjahr nachzuholen, weil sie zwei Wochen vor ihrem Abschluss wegen einer Schlägerei von der Schule flog. Zu Unrecht, wie sich mittlerweile vor Gericht herausstellte. Zwar hatte sie zugeschlagen, aber nicht als Erste.
Die Sozialpädagogin Barbara Köhler ist längst wieder in der Familie, Maria S. hatte beim Jugendamt einen Antrag auf erneute Familienhilfe gestellt. Und Köhler arbeitet wieder mit Mutter und Tochter, in Einzelgesprächen und Familienkonferenzen. Geht mit zu Behörden und zum Gericht. Dabei ist es allerdings nicht ihr vorrangiges Ziel, Laura so schnell wie möglich auf den geraden Weg zu bringen. „Wenn ich nur mit diesem Ziel in die Familie gehen würde, könnte ich es gleich vergessen. Ich muss Laura verstehen lernen, ansonsten öffnet sie sich mir gegenüber gar nicht“, sagt Köhler. Der Mutter dagegen kann es nicht schnell genug gehen, besonders bei Drogen sieht sie rot und beobachtet ständig die Pupillenweite ihrer Tochter. Und versetzt ihre Umwelt oft in Panik: „Die ist bestimmt schon wieder dicht.“
Dass sich Mutter und Tochter wieder zuhören, sich gegenseitig erzählen, wenn bei ihnen etwas nicht stimmt, will Köhler mit ihrer Arbeit in der Familie erreichen. Die Mutter manchmal gelassener machen, sie überzeugen, dass bestimmte Verhaltensweisen in der Pubertät einfach normal sind. Zu einer Drogentherapie konnte Köhler Laura bislang nicht überreden. „Hinter jeder Sucht steckt aber auch eine Sehn-Sucht. Nach Liebe, Geborgenheit, Struktur im Familienalltag“, sagt Köhler. „Indem beide lernen, ihre Bedürfnisse dem anderen mitzuteilen, soll die Familie zu einem Hort der Geborgenheit werden. Eine Tankstelle, in der alle so sein dürfen, wie sie sind und offen über sich sprechen können. Wenn die Sehnsucht von Laura nach einem angemessenen Platz für sich auf diese Weise erfüllt wird, muss sie sich ja nicht mehr zuschießen.“
Familie muss Tränen zulassen
Die Mutter, eine resolute Frau mit einem ordentlichen Job, erweckt nach außen den Anschein, als ob sie alles schafft. Aber sie ist oft traurig – und soll endlich das Weinen lernen. Ihre Gefühle raus lassen, ihre Kinder und ihren Lebensgefährten an sich heran lassen. Doch sie will vieles alleine machen, wirft sich selber vor, was ihre Kinder falsch machen.
Besonders die jüngste Tochter spürt die permanente Traurigkeit ihrer Mutter und macht sich wahrscheinlich ihre eigenen Gedanken. „Und das ist schlimm“, sagt Köhler. „Maria S. sollte ihren Kindern sagen, warum sie traurig ist. Denn ansonsten kennt die Phantasie von Kindern keine Grenzen, oder noch fataler: Die Kinder denken, sie sind schuld an der Traurigkeit.“ Manchmal bringt Köhler Maria S. zum Weinen - ein kleines Erfolgserlebnis. An der Entspannung müssen sie aber noch arbeiten. Maria S. ist ständig unter Strom, kann sich noch nicht einmal auf ihren Führerschein konzentrieren. Ohne ihn ist sie in ihrer Arbeit eingeschränkt. Sie nimmt sich wieder und wieder vor, ihn zu machen.
Laura hat ebenfalls Ziele. Den Hauptschulabschluss will sie machen, wenn nicht sogar den Realschulabschluss. Und Köchin oder Hotelkauffrau werden. Und eigentlich keine Drogen mehr nehmen. Und keine krummen Dinger drehen. Doch die schlimmen Erinnerungen an die Zeit im Jugendarrest verblassen. „Ich schlag auch nicht ohne Grund“, sagt Laura. Doch wenn sie provoziert werde, gehe eben die Klappe zu. Köhler will Laura sensibel machen, für den Moment, wo die Wut aufsteigt. Verhaltensstrategien einüben, um auf Provokationen zu reagieren. Doch die Sozialpädagogin bleibt realistisch. Laura habe bei ihrem leiblichen Vater wahrscheinlich viel Gewalt erfahren, sie war sehr jung und kann sich heute nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls nicht bewusst. Köhler weiß: „Wenn sich jemand nicht mehr an die schlimmen Sachen erinnern kann, kann er auch nicht darüber sprechen. In dem Fall ist eine Therapie äußerst schwierig.“
Die Namen der betroffenen Familie wurden von der Redaktion geändert.
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