Washington. . Amerika muss seinen Schuldenberg abbauen, ansonsten gerät die Weltkonjunktur in Gefahr. Doch der US-Kongress kann sich weder auf Steuererhöhungen noch einen rigiden Sparkus einigen. Ohne Einigung geht Amerika finanziell über die Klippe. Fragen und Antworten zu Präsident Obamas schwieriger Mission.

Geht Amerika finanziell über die Klippe? Oder gibt es eine Last-Minute-Lösung, die auch Europa vor Schaden bewahrt? Mit der Rückkehr von Präsident Obama aus den Weihnachtsferien auf Hawaii hat in Washington am Mittwochabend das Endspiel in einem bizarren Finanzstreit begonnen.

Bis Silvester muss die Lösung stehen. Und was, wenn nicht?

Worum geht es im Prinzip?

Amerikas Schuldenberg hat mit über 16.000 Milliarden Dollar eine Dimension erreicht, die der größten Volkswirtschaft der Welt die Luft abschnürt – also muss man ihn abtragen.

Und wie?

Am sinnvollsten wären aus Sicht fast aller Denkschulen erhebliche Einsparungen, aber gestreckt über zehn, 20 Jahre, damit die Wirtschaft nicht abgewürgt wird – und moderate Steuererhöhungen bei Gut- und Best-Verdienern. Aber genau darauf können sich Demokraten und Republikaner seit Jahren nicht einigen.

Mit der Folge, dass?

...ab 1. Januar der Zwangsvollstrecker droht und die Sparkeule geschwungen wird – wenn keine Lösung in letzter Minute gelingt.

Was heißt das konkret?

Quer Beet laufen Steuervergünstigungen der früheren Regierung von George W. Bush aus. Parallel dazu werden Zahlungen der Obama-Regierung für Arbeitslose und sozial Schwache gestrichen. Und das Militär muss schwer bluten. Insgesamt 600 Milliarden Dollar würden auf einen Schlag der Volkswirtschaft entzogen.

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An den Börsen drohen Kursabstürze. Rating-Agenturen werden erneut die Bonität des Landes herabstufen. Das Wirschaftswachstum im ersten Vierteljahr geht um vier Prozent zurück. Für dieses Szenario haben die Amerikaner den Begriff Finanzklippe („fiscal cliff“) erfunden.

Was geschieht, wenn der Absturz nicht vermieden wird?

Dann treten am Neujahrstag für 99 Prozent der Amerikaner empfindliche Steuererhöhungen in Kraft. Eine Durchschnitts-Familie hätte aufs Jahr gerechnet nach Angaben des Haushaltsbüros des Kongresses über 5000 Dollar weniger im Portemonnaie. Dazu kommen Kürzungen in staatlichen Sozialprogrammen wie Social Security (Rente) und Medicare (Gesundheitsversorgung für Rentner) sowie hohe Einsparungen im Haushalt des Verteidigungsministeriums.

Warum wäre das – auch für Europa – von Nachteil?

Die Radikalkur wäre Gift für die sich gerade erholende US-Konjunktur, die global Lokomotiv-Funktion hat. Wenn die Steuererhöhungen in der Mittelschicht ankommen, Konsumenten weniger Geld ausgeben, der labile Häusermarkt erneut unter Druck gerät, kleine Betriebe Personal entlassen und die Arbeitslosigkeit steigt, gerät Amerika nach übereinstimmender Ansicht der Wirtschaftsforscher in eine Rezession.

Durch die enge Verflechtung in der internationalen Wirtschaft wären auch deutsche Exportfirmen betroffen. Sie würden weniger Produkte „made in Germany“ absetzen. Die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, warnt vor einem „Dominoeffekt“ für die gesamte Weltwirtschaft.

Wie kam es zu dem Automatismus mit pauschalen Kürzungen?

Durch Politiker, die sich nicht verständigen können. Oder wollen. Als Demokraten und Republikaner im Sommer 2011 nicht weiterkamen in der Frage einer Schulden-Obergrenze, beschlossen sie die besagten Etatkürzungen nach Rasenmäher-Methode für den 1. Januar 2013.

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Damals noch in der Annahme, man werde vorher schon einen gütlichen Kompromiss finden. Weil die Kluft zwischen Demokraten und Republikanern seither tiefer geworden ist und im Wahljahr reines Taktieren dominierte, kam keine brauchbare Lösung zustande. Dazu bleiben jetzt noch fünf Tage.

Warum finden die Parteien nicht zueinander?

Aus ideologischen Gründen. Die Demokraten wollen moderat sparen und gleichzeitig den Reichen im Land die Steuern erhöhen. Die Republikaner halten Steuererhöhungen im Prinzip für Teufelszeug. Sie wollen den aus ihrer Sicht ausgeuferten Sozialstaat schleifen.

Gibt es gar keine Annäherung?

Es gab sie. John Boehner, der Verhandlungsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus und Obamas wichtigster Gegenspieler, war zuletzt zu Steuererhöhungen bereit; aber nur für Einkommens-Millionäre. Obama wollte anfangs bereits bei Einkommen von 250 000 Dollar pro Jahr den Fiskus stärker profitieren lassen: von 35 Prozent auf 39,6 Prozent. Zuletzt hatte er auf 400 000 Dollar „erhöht“. Fruchtlos. Boehner hat im eigenen Lager nicht einmal für eine Mehrbelastung von Millionären eine Mehrheit. Eine Minderheit von cirka 50 von insgesamt 233 Abgeordneten, die der rechtskonservativen, politisch nicht anschlussfähigen Tea-Party-Bewegung nahestehen, legt sich permanent quer.

Kann der Streit noch vor den ersten Silvester-Böllern gelöst werden?

Das ist die Eine-Millionen-Dollar-Frage. Alle Experten appellieren an die Vernunft der Beteiligten und erinnern immer wieder an das katastrophale Ansehen, dass der Kongress in der Bevölkerung genießt. Obama und Boehner verhandeln ab heute wieder. Gleichzeitig kommen die Abgeordneten aus Senat und Repräsentantenhaus nach Washington zurück. Das Szenario, dem zurzeit die größten Chancen gegeben, ist eine Hilfskrücke: Mit einem Übergangspaket würden die besagten automatischen Kürzungen und Steuererhöhungen ins Frühjahr verschoben. Dann ginge das ganze Geschacher wieder von vorne los.