Essen. . Der Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Nikolaus Schneider, erklärt im NRZ-Interview, wie aktuell die 2000 Jahre alte Weihnachtsgeschichte noch ist.

Die heilige Familie hat großes Glück gehabt, dass sie nicht heute lebt und EU-Außengrenzen überwinden musste. Sagt Nikolaus Schneider, der Vorsitzende der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) – und erklärt im NRZ-Interview, wie aktuell die über 2000 Jahre alte Geschichte eigentlich noch heute ist.

Präses Schneider, Weihnachten - die Geburt eines Jungen unter ärmlichsten Verhältnissen in einer Kleinstadt im Nahen Osten. Aus diesem Ereignis sollen Menschen auch rund 2000 Jahre später noch Hoffnung schöpfen?

Nikolaus Schneider: Ja, weil es Menschen in Situationen des Lebens anspricht, die heute genauso aktuell sind wie damals. Da ist eine arme Familie, von unbarmherzigen Behörden gezwungen, sich trotz Schwangerschaft auf eine schwere Reise zu machen. Es geht um Geld: Josef und Maria, sollen sich in Steuerlisten eintragen. Dann die Geburt eines von Beginn an gefährdeten Kindes. Die Familie musste ja gleich flüchten. Und da kann man aus heutiger Sicht schon sagen: Jesus und seine Eltern konnten froh sein, dass der Nil keine EU-Außengrenze war und von Frontex bewacht wurde - so hatten sie eine Chance.

Eine dramatisch, aber bis hierher kaum göttliche Geschichte.

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    Schneider: Das Besondere an der Geburt Jesu ist, dass Gott selbst als Mensch in diese dunkle Welt hinein tritt. Das ist ein völlig neues Gottesbild! Normalerweise verbindet man mit einem Gott doch Glanz und Gloria, Stärke und Pracht - aber ein armseliger Stall, Dunkelheit, Verzweiflung? Die zentrale Botschaft ist: Gott erhellt die Dunkelheit. Er schafft sie nicht gleich ab, aber die alles zerstörende Kraft der Dunkelheit wird gebrochen.

    Warum ist für Christen die Geburt Jesu so bedeutsam? Eigentlich ist doch die Auferstehung das zentrale Ereignis.

    Schneider: Die Szenerie dieser Geburt ist gewissermaßen die Ouvertüre zu Jesu Lebensgeschichte, in der die wesentlichen Elemente alle schon vorkommen. Eine Geschichte, die in der Linie dieser Dunkelheiten bleibt: Ein Mensch, der nicht im Palast wohnt, sondern als Wanderprediger auf die Fürsorge anderer angewiesen ist. Einer, der die Kranken heilt, und die Ausgegrenzten in die Mitte der Gesellschaft zurückholt. Und einer, der am Ende einen ganz bitteren Weg zu gehen bereit ist. Jesu Kreuz liegt in der Fluchtlinie der Geburt im Stall. Sie findet ihre Vollendung in seiner Auferstehung, Gottes endgültiger Überwindung von Tod und Dunkelheit. Das ist etwas, das uns bis heute anspricht und bis heute Perspektive und Hoffnung gibt.

    Trotzdem dürften vielen, die schon seit Wochen mit Glühwein und Geschenken „Weihnachten“ feiern, diese Geschichten ziemlich egal sein.

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    Schneider: Möglich, dass sie die Geschichte nicht im Blick haben. Aber dass ihnen die Geburt Jesu’ egal ist, glaube ich nicht. Jeder kennt doch Dunkelheiten im Leben: Krankheit, Tod, Momente der Verzweiflung. Deswegen lassen sich Menschen von der Weihnachtsgeschichte ansprechen. Weihnachten heißt Hoffnung. Aber unsere gesellschaftlichen Bedingungen prägen eben auch unsere Art des Feierns - und das ist völlig in Ordnung. Wir müssen doch nicht so tun als wären wir arme Leute in einem Stall. Wir stilisieren vor allem die Freude, die mit Weihnachten gekommen ist. Aber es bleibt die Freude über die Präsenz und die Menschwerdung Gottes - und daraus wird ein Fest mit den Menschen, die uns besonders am Herzen liegen. So ist auch der Weihnachtsmarkt in Ordnung und der Glühwein und alles, worüber wir uns freuen - wenn wir Maß halten: Wenn an Weihnachten Konsum und Kaufen im Mittelpunkt stehen, verdreht das die ganze Geschichte.

    Dennoch scheint die biblische Geschichte oft maximal noch zur Fassade für die Weihnachtsfeier zu taugen. Muss einen Kirchenmann diese Ignoranz und Verfälschung nicht bedrücken?

    Schneider: Es ist für mich eine Herausforderung, den wahren Inhalt immer wieder deutlich zu machen: Alles was Ihr feiert, woran Ihr Freude habt, ist völlig in Ordnung - aber es hat noch eine andere Perspektive: das Kind in der Krippe. Und diese Perspektive ist auch wichtig für euch, weil sie so etwas wie das Fundament des Lebens ist.

    Trotz all dieser Anstrengungen bröckelt die christliche Basis in unserem Land, sinken die Mitgliederzahlen.

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    Schneider: Ich finde, wir haben allen Grund, uns deshalb nicht selbst zu frustrieren. Wir werden ja nicht weniger, weil uns die Leute in Scharen davon laufen, sondern weil die Bevölkerung insgesamt schrumpft. Die Kinder, die nicht geboren werden, können wir auch nicht taufen. Daneben haben wir die Herausforderung, denen nachzugehen, die ausgetreten sind - und da sehe ich Fortschritte. Bei den Wiedereintritten haben wir wachsende Zahlen, über die wir uns freuen können. Und was das christliche Fundament unserer Gesellschaft angeht, ist da noch unglaublich viel präsent. Aber wir wollen die Dinge auch nicht schön reden. Denn als Kirche wollen wir ja einerseits unsere Angebote weiter aufrechterhalten, uns aber andererseits schon jetzt auf eine Zeit einstellen, in der unsere Kirche von ihrer Größe her noch einmal ganz anders aussehen wird. Das ist schon ein immenser Kraftakt.

    Aus der Leitung dieser Kirche scheiden Sie im Frühjahr aus Altersgründen aus, und die Chancen stehen nicht schlecht, dass es danach erstmals eine weibliche Präses im Rheinland geben wird. Wie relevant ist diese Geschlechterfrage heute noch?

    Schneider: Es ist noch gar nicht allzu lange her, dass Frauen in der evangelischen Kirche Leitungsämter bekleiden dürfen. Dass Frauen ins Pfarramt ordiniert werden, haben wir erst seit den 1970er Jahren! Da würde es gut in die Zeit passen, wenn eine Frau das Leitungsamt der rheinischen Kirche übernehmen würde. Ich spüre aber nicht mehr so sehr den Druck früherer Jahre, dass es jetzt unbedingt eine Frau werden muss.

    Egal ob christlich oder nicht - Weihnachten ist für die meisten Menschen ein Familienfest: Wie feiert Familie Schneider?

    Schneider: Meine Frau und ich werden den Heiligen Abend in Düsseldorf feiern. Ich werde in der Johanneskirche predigen, wir werden die gemeinsame Zeit genießen und auch zum Friedhof gehen und an Meike denken (Schneiders jüngste Tochter starb 2005 mit 22 Jahren an Leukämie, Anm. der Red.). Dann fahren wir nach Berlin zu unserer ältesten Tochter und feiern dort Weihnachten mit der gerade auf drei Enkelkinder erweiterten Familie.

    Im Frühjahr werden sie dann selbst mit ihrer Frau nach Berlin ziehen. Was werden sie am Rheinland besonders vermissen?

    Schneider: Mir hat die große, bereichernde Vielfalt in der rheinischen Kirche gut getan - zwischen Niederrheinern, Oberbergern, Saarländern und den vielen anderen Regionen bei uns. Auch das klare Profil des Rheinlands gefällt mir, und dass hier so gerne diskutiert und gestritten wird - verbunden mit einer gewissen Leichtigkeit. Wir können ja auch gut feiern. Und dann dieser besondere Umgang miteinander: Wir lassen einander gelten und wissen auch im Streit, dass wir zusammengehören. All das sind ganz starke Eigenschaften des Rheinlands, aber wir haben manchmal auch die Schwäche, uns für den Nabel der Welt zu halten.

    Als Sohn eines Duisburger Hochofenarbeiters und späterer Pfarrer in Rheinhausen und Moers haben Sie vor allem das Ruhrgebiet hautnah erlebt - wie hat sich die Region entwickelt?

    Schneider: Im Schneckentempo. Die Region ist nach wie vor enorm belastet. Die Arbeitsplätze sind zu Zehntausenden weggefallen und nur zu Hunderten zurückgekehrt. Die Folge ist eine Verarmung - bei den Kommunen und bei den Menschen - und eine gewisse Depression. Hier ist es wichtig Hoffnungszeichen zu setzen, gerade auch für uns als Kirche. Ich bin überzeigt, dass diese Region Stärken hat, die sie noch entwickeln kann, damit es ein neues Erblühen gibt. Aber ich fürchte, es wird noch einige Generationen dauern, bis sich das Ruhrgebiet von diesen massiven Strukturveränderungen wirklich erholt hat.

    Bis dahin machen erst noch die Zechen dicht - und nun auch Opel Bochum?

    Schneider: ...und vorher das Nokia-Werk. Auch bei Opel sind es jetzt offenkundig wieder Managementfehler, unter denen die Leute und die Region leiden. Der Fall zeigt aber auch noch einmal, dass diese großen Monostrukturen nicht gesund sind. Wenn einer zumacht, gibt es gleich ein riesiges Problem. Eine kleinteiligere Struktur ist da viel stabiler. Ein großes Problem des Ruhrgebiets ist aber auch, dass die politisch Verantwortlichen bislang nur unzureichend gelernt haben, zusammenzustehen. Wir brauchen dringend ein Konzept, wie das Ruhrgebiet gemeinsam verwaltet werden kann. Dann kann man ja immer noch auf die Eigenheiten der einzelnen Städte Rücksicht nehmen, aber wir brauchen einen Masterplan für eine gemeinsame Verwaltung. Man hat schon manchmal den unfreundlichen Verdacht, dass dieser Plan bislang daran scheitert, weil in der Zersplitterung mehr Karrieren und Versorgungsposten möglich sind.

    Wird Ihr Umzug nach Berlin ein endgültiger Abschied vom Rheinland?

    Schneider: Wir haben unsere Freunde und die meisten Menschen, mit denen wir verbunden sind hier im Rheinland. Deshalb halten wir uns die Option offen, dass wir nach Abschluss meiner Dienstzeit bei der EKD zumindest die Wahl haben, auch wieder zurück zu kommen. (Schneider ist bis 2015 gewählter Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Anm. der Red.)

    Wie viel Ruhestand wird die EKD denn ihrem Ratsvorsitzenden gönnen?

    Schneider: Da bin ich auch mal gespannt. Ich habe der EKD jedenfalls deutlich gemacht, dass ich nun etwas mehr freie Zeit während der Woche haben möchte.

    Die EKD wird heilfroh sein, sich ihren Ratsvorsitzenden nicht mehr mit der rheinischen Kirche teilen zu müssen.

    Schneider: Vieles wird dadurch tatsächlich einfacher. Vor allem aber wohl, weil die Wege zu Terminen in Berlin, aber auch bei der EKD in Hannover, kürzer werden, wenn ich selbst in Berlin wohne.

    Um dann mit den Enkeln auf den Spielplatz oder in den Berliner Zoo zu gehen?

    Schneider: Aber ja! Meine Frau hat schon eine Jahreskarte gekauft.

    Bei Ihren dienstlichen Terminen dürfte das kirchliche Arbeitsrecht eines der großen Themen bleiben, wenngleich nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts über das Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen ein wenig Friede zwischen Kirchen und Gewerkschaften eingekehrt scheint.

    Schneider: Formal haben die Kirchen vor dem Bundesarbeitsgericht verloren. Aber das Gericht hat auch gesagt, dass die Arbeitsrechtssetzung auf unserem Dritten Weg genauso gut ist wie mit Tarifverträgen - wenn denn die Bedingungen eingehalten werden, die sich aus unserem Dritten Weg ergeben. Mehr als diese Bestätigung können wir nicht wollen! Der Gewerkschaft Verdi ist es jedenfalls nicht gelungen, den Dritten Weg zu zerstören.

    Und wie geht es mit Lohndumping, Leiharbeit und anderen Missständen in kirchlichen Häusern weiter?

    Schneider: Wir haben nun Hausaufgaben aufbekommen, Missstände in kirchlichen Einrichtungen abzustellen - und wir sind uns auf Ebene der EKD einig, dass wir sie abstellen werden. Wobei ich betonen möchte, dass es sich hier wirklich um wenige Einzelfälle handelt. Wichtig ist aber doch auch, dass wir das Thema „Sozialmarkt“ jetzt als Ganzes angehen. Die ungeregelten Zustände auf diesem Markt sind doch geradezu eine Einladung zu Sozial- und Lohndumping.

    Das dürfte Verdi ähnlich sehen.

    Schneider: Tatsächlich gibt es doch gerade auf dem Sozialmarkt große gemeinsame Interessen: Zum Beispiel eine anständige Bezahlung unserer Mitarbeiter und eine gute Versorgung von Krankenhaus-Patienten und Pflegeheim-Bewohnern. Es kann doch nicht sein, dass etwa bei der Festlegung der Fallpauschalen für Krankenhausbehandlungen völlig unberücksichtigt bleibt, dass wir unsere Leute anständig bezahlen wollen. Hier müssen Rahmenbedingungen gesetzt werden, die die Qualifizierung der Menschen berücksichtigen und auch auf die nötige Quantität des Personals wert legt. Und die Politik, die ja zum Teil mit dem Finger auf uns Kirchen und unser eigenes Arbeitsrecht gezeigt hat, hat es in der Hand hier zu Veränderungen zu kommen. Ich hoffe, dass wir uns jetzt auch mit Verdi gemeinsam auf einen vernünftigen Weg begeben.

    ... der für den Staat unglaublich teuer werden dürfte.

    Schneider: Die Kosten werden steigen, , weil die Zahl der älteren Menschen weiter steigen wird. Aber es war schon immer ein unehrliches Spiel, auf dem Rücken der Beschäftigten eine gerade noch vertretbare Grundversorgung durchzuhalten, ohne viel zusätzliches Geld in die Hand zu nehmen. Das kann so nicht weitergehen!

    In der Evangelischen Kirche steht nicht nur jetzt zur Weihnachtszeit die Musik besonders im Fokus. Die Konzertbilanz im zu Ende gehenden Jahr „Reformation und Musik“ ist beeindruckend - aber welche Perspektiven hat die Kirchenmusik im Alltag angesichts immer knapper werdender Kassen?

    Schneider: Ich hoffe, dass uns im Rheinland künftig eine bessere gemeinsame Planung der Kirchenmusik gelingt, die gute Kooperationen vor Ort unterstützt. Wir wollen die Kirchenmusik nicht zentralisieren, aber einen immer besseren Überblick über die Initiativen vor Ort geben, damit die Gemeinden eine bessere Grundlage haben, selbst zu überlegen, was sie anbieten wollen und können. Eine solche gemeinsame Planung ist aus meiner Sicht der einzige Weg, damit uns die Kirchenmusik nicht wegbricht.

    Viele der Konzerte im Schwerpunktjahr „Reformation und Musik“ basierten auf Projekt-Chören oder -Orchestern. Ist das die Alternative zu festen Kirchenchören?

    Schneider: Sicher nicht ausschließlich. Wenn Sie alles nur noch als Projekt machen, machen Sie irgendwann gar nichts mehr, weil jedes Projekt doch eine feste Grundlage braucht. Wir brauchen - auch zahlenmäßig - ein gutes Verhältnis zwischen der musikalischen Grundversorgung und solchen herausragenden Projekten.

    Das heißt, die vertraute Struktur aus Bläserkreisen, Chören und anderen Kirchenmusik-Ensembles wird bleiben?

    Schneider: Die muss bleiben, auch wenn sich die Schwerpunkte ein wenig hin zu den Projekten verlagert haben. Aber die festen Ensembles und die Projekte brauchen einander. Gerade aus den Chören und Musikgruppen werden doch oft spannende Projekte angestoßen. Und vielen macht die Arbeit in einem Projekt-Chor oder -Orchester so viel Freude, dass sie anschließend dauerhaft Musik machen möchten.