Düsseldorf.. Die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft spricht im Interview mit der WAZ Mediengruppe über ihre Erwartungen an Weihnachten, den gesellschaftlichen Werteverfall und die Frage, was NRW aus dem Massaker an der Schule in den USA lernen kann.

In diesem Jahr hat Hannelore Kraft mit ihrem Wahlsieg den Aufstieg zur starken Frau in der SPD geschafft. Jetzt freut auch sie sich auf ruhige Weihnachtstage. In ihrer Staatskanzlei stellte sich die Ministerpräsidentin zuvor den Fragen von Theo Schumacher.

Frau Ministerpräsidentin, was bedeutet Weihnachten für Sie?

Hannelore Kraft: Zeit für die Familie. Wir feiern ganz ruhig und im engsten Kreis. Weihnachten bedeutet für mich aber auch eine Zeit der Besinnung.

Gibt Religion Ihnen Halt?

Kraft: Ja. Sie bietet mir ein sicheres Wertefundament, um Entscheidungen treffen zu können. Nachdem ich aus der katholischen Kirche ausgetreten war, habe ich gemerkt, dass ich mich heimatlos fühlte. Deshalb habe ich mich mit der evangelischen Kirche intensiver beschäftigt und bin später dort eingetreten. Ich bin sehr froh darüber. Ich fühle mich geborgen in dieser Gemeinschaft.

Welchen Sinn hat Weihnachten für eine Gesellschaft, in der das soziale Gefüge immer brüchiger wird?

Kraft: Weihnachten ist wichtig, im ursprünglichen Sinne. Allerdings finde ich, dass der Kommerz zu oft überhand nimmt. In manchen Familien ist auch der Druck sehr hoch, zu Weihnachten einem vermeintlichen Idealbild zu entsprechen. Das geht nicht immer gut.

Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, haben Sie in Ihrer Regierungserklärung gesagt. Wohin gehen wir, wenn diese Entwicklung anhält?

Kraft: In eine schwierige Zukunft. Deshalb muss es uns gelingen, diese Schere wieder mehr zu schließen. Sonst ist der Zusammenhalt der Gesellschaft nicht zu gewährleisten. Dazu müssen wir richtige Entscheidungen treffen, wie einen gesetzlichen Mindestlohn als Reißleine nach unten, wie der Kampf für gute Arbeit, wie eine anständige Rente statt Almosen.

Was kann aus Ihrer Sicht die Politik tun?

Kraft: Ich halte es für richtig, dass die starken Schultern in diesem Land mehr tragen. Natürlich darf man sie dabei auch nicht überfordern. Aber wir müssen die Schwächeren mehr in den Blick nehmen und versuchen, möglichst allen eine Chance zu geben. Deshalb muss sich die Politik stärker ausrichten an den Bedürfnissen unserer Kinder. Eine vorbeugende Politik ist die Basis, damit es die folgenden Generationen leichter haben.

Viele Menschen beklagen schwindenden Respekt im täglichen Umgang. An den Schulen in NRW soll es regelmäßig eine Woche des Respekts geben.

Kraft: Das wollen wir nicht nur an den Schulen machen. Sie können überall beobachten, dass Respekt und Anstand verloren gegangen sind. Es macht mir Sorgen, wenn regelmäßig Polizisten oder Rettungskräfte im Dienst angegriffen werden. Das gab es früher in diesem Maße, in dieser Brutalität nicht. Da sagte man sich: das sind die Menschen, die für uns alle arbeiten, auch ihr Leben riskieren. Oder nehmen Sie das Internet: Hier nimmt die Verrohung teilweise schlimme Formen an.

Wo liegen die Ursachen?

Kraft: Ich glaube, das ist ein schleichender Prozess. Unser Wertesystem wird allmählich ausgehöhlt, wenn wir nicht aufpassen. Wir konzentrieren uns oft zu sehr auf die täglichen Herausforderungen und Sorgen und reden zu wenig über die Grundlagen unserer Gesellschaft. Dabei müssen wir unsere Wertebasis stets erneuern. Das sind wir auch den Kindern und Jugendlichen schuldig.

Es gibt Beispiele für wachsenden Egoismus in den Chefetagen von Politik und Wirtschaft. Viele Leute wenden sich ab. Wundert Sie das?

Kraft: Ist es so einfach? Ich nehme die negative Entwicklung überall wahr. Die „Geiz-ist-geil“-Mentalität hat sich in der ganzen Gesellschaft verbreitet. Ich schalte den Fernseher ein und finde viele Sendungen, in denen immer derjenige erfolgreich ist, der seine Ellenbogen am weitesten ausfährt. Es sind also nicht nur „die da oben“.

Welche Rolle spielen die Medien? Wird zu viel skandalisiert?

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Kraft: Klar ist jedenfalls, dass die Konkurrenz auch in der Medienbranche immer schärfer wird. Jeder will die exklusive Nachricht, jeder will sie schneller. Der Druck steigt also und damit steigt die Zuspitzung. Das ist sicher nicht hilfreich.

Das Massaker mit 28 Toten an einer Schule in den USA liegt zehn Tage zurück. Welche Lehren können wir daraus ziehen?

Kraft: Ich bin heilfroh, dass wir eine andere Waffengesetzgebung haben als die USA. Aber auch sie bietet keinen lückenlosen Schutz, keine hundertprozentige Garantie. Es wird immer schwierig sein, die Tat eines Einzelnen zu verhindern. Wir müssen unsere offene, freie Gesellschaft verteidigen. Freiheit muss stärker sein als Angst.

Auch NRW traf eine Tragödie: die Loveparade-Katastrophe mit 21 To­­desopfern. Hat Sie das verändert?

Kraft: Ja. Das wird immer Teil meines Lebens sein. Das Unglück traf uns gleich zu Beginn meiner Amtszeit. Ich habe damals Verbindungen zu vielen Angehörigen der Opfer, aber auch zu Verletzten und Traumatisierten aufgebaut. Bis heute sprechen mich viele Leute darauf an. Es ist immer da, und die Opfer bleiben in meinem Herzen. Für meine politische Arbeit heißt das, alles zu versuchen, damit sich so etwas nicht wiederholt. Ich hoffe, das gelingt uns.