Essen. 2012 bekommt die EU den Nobelpreis - 1950 zerlegten junge Aufmüpfige einen Schlagbaum. Grenzen führen zu Krieg, sagten sie. Die Europäische Union schaffte es, ihre Ideale zum Alltag zu machen.

Sommer 1950. 300 junge Leute rotten sich in Heidelberg und Straßburg zur Verschwörung zusammen. Sie mieten Busse, packen Brote, Hammer, Sägen ein. Ihr Ziel: Der deutsch-französische Grenzübergang Germanshof. Sie wollen aus dem Schlagbaum Kleinholz machen.

Fünf Jahre nach dem Massaker an Europas Jugend, nach 80 Millionen Toten in beiden Weltkriegen, möchten die „Föderalisten“, wie sich die Gruppe nennt, von trennenden Grenzen nichts mehr wissen. Sie planen ein Fanal.

Diese Piraterie war nicht der Beginn der Europäischen Union. Aber vielleicht hatten die 300 Rebellen die erste konkrete Vorstellung davon, was Europa mal sein sollte: Die Friedensgarantie für die, deren Brüder und Väter noch aufeinander geschossen hatten.

Die Montanunion

Die Gründungs- und Entwicklungsstufen der Gemeinschaft verliefen nicht so aufmüpfig. Sie zogen sich 60 Jahre hin, über die Veränderungen von Maastricht, Amsterdam, Nizza bis zum neuen Grundlagenvertrag von Lissabon 2007 – und sie hatten am Anfang eine schnöde ökonomische Botschaft: Ein Jahr nach dem „Überfall“ auf den elsässischen Grenzposten zeichneten sechs Staaten den Vertrag über den einheitlichen Markt für Kohle und Stahl.

Die Mitgliedsstaaten der EU
Die Mitgliedsstaaten der EU

Dessen politisch pikanter Kern: In dieser Montanunion übertrugen Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Belgien und Deutschland erstmals in der Weltgeschichte eigene Souveränitätsrechte auf eine übernationale Organisation.

Sechs Jahre später unterschrieben die gleichen Sechs die Römischen Verträge mit dem Ziel des freien Verkehrs von Menschen, Waren und Dienstleistungen. Fortan galten aufgeregte Reportagen aus den nächtlichen Preisverhandlungen der Landwirtschaftsminister als Fiebermesser für Europas Gesundheitszustand.

500 Millionen Menschen

Aus sechs Ländern sind heute 27 geworden. Aus erst rund 150 Millionen Einwohnern wuchs eine Gemeinschaft mit mehr als 500 Millionen Menschen zwischen der stürmischen Biskaya und dem östlichen Baltikum. Die friedenssichernde Klammer blieb: Wichtige Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Wichtige Einrichtungen sind nur gemeinsame. Kein Land kann mehr alleine handeln.

Das gilt für Wirtschaft, Wettbewerb und Währung, die Sicherung der Außengrenzen, den Umweltschutz, die Verbraucherrechte, Verkehrswege und die Energie. 25 000 Rechtsakte sind auf 100 000 Seiten Druckpapier, den „Acquis Communautaires“, aufgeschrieben. Es ist eine Art europäisches Gesetzbuch.

Zeitstrahl 1: Von 1951 bis 1990
Zeitstrahl 1: Von 1951 bis 1990

Zwei Drittel der Entscheidungen, die der Bundestag trifft, haben ihren Ursprung auf EU-Ebene. Fast jedes Bundesland hat heute eine „Botschaft“ rund um den Rond Point Schuman in Brüssel, wo 30 000 Mitarbeiter von Kommission, Ministerrat und Parlament arbeiten. Zwangsläufig fast: Die Hälfte von ihnen sind Dolmetscher.

Die Pioniere

Vorsichtig pirschen sich die Regierungen an weitere „Vertiefungen“ heran. Ist ein einheitliches europäisches Strafrecht möglich? Kann es eine einzige europäische Außenpolitik geben, die der Amerikaner Henry Kissinger mit seinem Ruf nach „der einheitlichen Telefonnummer“ der Europäer schon immer eingeforderte?

Was ist mit der „Wirtschaftsregierung“? Es sind in den Zeiten der Euro-Krise heikle Fragen, zumal die Gegner einer zu weit gehenden Zentralisierung auch immer wieder auf platte Dummheiten hinweisen können: Der vorgegebene Grad der Gurkenkrümmung gehört dazu.

Zeitstrahl 1992 bis 2004
Zeitstrahl 1992 bis 2004

Die Erfahrung zeigt aber, dass abseits des bürokratisch eng vorgegebenen Wegs der Gemeinschaft immer neue vielfältige Felder der Zusammenarbeit erschlossen werden. Oft gehen nur wenige „Pionier-Länder“ voran.

Eurocontrol und Europol

Eurocontrol lenkt den Luftverkehr. Europol ist die zentrale Polizeibehörde, deren Haager Hauptquartier im ehemaligen Gestapo-Gefängnis angesiedelt ist. Mit dem Vertrag von Schengen vor 27 Jahren fielen die Grenzkontrollen in weiten Teilen des Kontinents. Europäer treten auf Reisen als Europäer auf: Mit einem roten Pass und dem Schriftzug der Europäischen Union.

Das beste Beispiel für die neue Friedlichkeit des Kontinents aber gibt es in Nordrhein-Westfalen: Die Niederlande haben keine eigene Landarmee mehr. Sie teilen sie mit der Bundeswehr, deren Vorläufer 1943 Rotterdam bombardierten. Das Stabsquartier der Brigade ist das westfälische Münster. Obwohl die EU selbst keine militärische Kompetenz besitzt – das ist Nato-Sache –, kann die Brigade der Kommission unterstellt werden. Die Idee der Gründerväter Europas stand Pate.

Die Vereinigten Staaten von Europa?

Diese ganzen Dinge machen den erfahrenen Ex-Diplomaten Axel Herbst stolz, der 1918 vier Wochen vor Ende des Ersten Weltkriegs in Mülheim an der Ruhr geboren wurde, stolz. Er war Generalsekretär der Kommission in den 60er-Jahren. Er handelte das Assoziierungsabkommen mit der Türkei aus und hält heute den Binnenmarkt für die überragende Leistung der Europäer. Sie stärke den Kontinent im weltweiten Wettbewerb und sichere so die Arbeitsplätze.

Herbst ist aber auch Skeptiker, was die gemeinsame Währung betrifft und er vertritt eine kämpferische Idee: Er glaubt, es sei jetzt Zeit, den Status der Gemeinschaft auf dem heutigen Niveau zu halten und nicht weiter zu gehen. Die „Vereinigten Staaten von Europa“, die auch den 300 Rebellen am Grenzübergang Germanshof vorschwebten? Für ihn ist das pure Illusion.

Erreicht haben die „Föderalisten“ von 1950 dennoch einiges. Nach dem Knacken der Barrieren liefen sie wie im Rausch ungehindert von Frankreich nach Deutschland und wieder zurück.

Eine Sensation. Heute ist sie Alltag.