Bochum. . Martin Schulz (SPD) will, dass Europa schneller zusammenwächst. Der Präsident des Europaparlaments war Gast der Veranstaltungs-Reihe „Herausforderung Zukunft“ in Bochum. Am Rande der Veranstaltung sprach er mit uns über die Zukunft Europas.

Martin Schulz (SPD) will, dass Europa schneller zusammenwächst. Der Präsident des Europaparlaments war Gast der Veranstaltungs-Reihe „Herausforderung Zukunft“ in Bochum. Wir sprachen mit ihm über die Zukunft der EU.

Herr Schulz, François Hollande hat gerade die „politische Union“ gefordert. Ist das das Ziel? Brauchen wir die Vereinigten Staaten von Europa?

Martin Schulz: Ja, wir brauchen die politische Union. Aber die Union, die wir anstreben, wird nicht die USA auf europäischen Boden werden. Wir werden weder einen europäischen Bundesstaat schaffen noch bei einem lockeren Staatenverbund bleiben. Die Union wird dazwischen liegen.

Das klingt irgendwie nach: Nichts Halbes und nichts Ganzes.

Schulz: Lassen Sie mich am Beispiel erklären, was diese politische Union leisten muss: Dort, wo der Nationalstaat seine Bürger nicht mehr schützen kann in der globalisierten Welt, muss Europa ansetzen. Nur durch die EU werden wir in Europa unseren Wohlstand und unsere Sicherheit bewahren können. Dort aber, wo Europa Aufgaben hat, die der Nationalstaat besser leisten könnte, muss Europa verzichten.

Bei der weltweiten Kriminalitätsbekämpfung, bei Währungsfragen, beim Handel, beim Klimawandel ist der Nationalstaat zu klein. Der Rat der Stadt Bochum kann zum Weltklima beschließen, was er will. Das ändert nichts. Dagegen sollte die Kommission in Brüssel nicht die Verkehrspolitik in Bochum beeinflussen.

Brauchen wir eine echte europäische Regierung?

Schulz: Die Kommission ist in vielen Bereichen längst eine Regierung. Sie sollte dann auch so genannt werden. Gewählt durch das Europäische Parlament und nicht mehr ausgekungelt von den Regierungschefs in Hinterzimmern. Der Präsident der EU-Kommission wird ja schon nach der nächsten Europawahl im Jahr 2014 durch das Europaparlament gewählt werden. Das ist ein großer Schritt hin zu einer europäischen Regierung.

Aber das geht doch nicht, ohne die Bevölkerung zu fragen. Dafür braucht es Volksentscheide, oder?

Schulz: Wenn wir eine bestimmte Integrationsstufe erreichen, sind wir nach dem deutschen Grundgesetz gehalten, eine Volksabstimmung abzuhalten. Da sind wir aber noch nicht. Bevor wir aber über Volksentscheide reden, müssten die Regierungen sich erstmal im Klaren sein, wo sie hinwollen. Die Staats- und Regierungschefs der EU reklamieren für sich, für alles zuständig sein und alles entscheiden zu müssen. Sie können sich aber auf nichts einigen. Wir müssten den Rat der Regierungschefs besser kontrollieren und in eine einheitliche Richtung bringen.

Wer kann das antreiben?

Schulz: Das Europaparlament, die nationalen Parlamente und viel öffentliche Diskussion.

Für viele Bürger ist Europa eher ein Alptraum. Europa macht ihnen Angst.

Schulz: Früher hieß es, es sei unbedeutend, wenn in China ein Sack Reis umfällt. Das stimmt aber heute nicht mehr. Was in China passiert, wird hier in Realzeit wahrgenommen und betrifft uns unmittelbar. In einer solchen Welt gibt es Verunsicherung. Und da bietet der Nationalstaat eine vermeintliche Sicherheit. Daher wünschen sich viele das Nationale zurück. Aber das ist genau der falsche Weg.

Wo würde der hinführen?

Schulz: Zu den alten Dämonen des 20. Jahrhunderts. Der Nationalstaat entfaltet nach innen eine hohe Identifikationskraft. Aber nach außen kann er zerstörerische Kräfte entwickeln. Die europäische Einigung ist die Lehre aus den Fehlern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Aber auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Die Nationalstaaten verfügen heute nicht mehr über die geeigneten Mittel, um im 21. Jahrhundert in einer globalisierten Welt den Bürgern ausreichend Schutz zu gewähren. Wir Europäer würden uns selbst abhängen, bei einem Rückfall in Kleinstaaterei.

Müssten wir diese Union nicht mit einigen wenigen Staaten schaffen, die das auch können und wollen? Zu Beispiel mit Frankreich und Benelux. Wir haben ja einige unsichere Kandidaten in Europa. In Ungarn, in Rumänien scheint die Demokratie nicht so sattelfest zu sein. Polen hatte zuletzt sehr auf nationale Souveränität geachtet.

Schulz: Natürlich gibt es Probleme, nicht nur in Ungarn und Rumänien. Demokratie geht nicht von jetzt auf gleich. Aber die EU hilft, damit diese Länder bei der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit vorankommen. Bei der Demokratiehilfe war Europa in der Vergangenheit in Spanien, Portugal und Griechenland sehr erfolgreich.

Die Frage, ob manche Staaten ein Kerneuropa bilden können, ist schon lange aktuell. Wenn sie es wollten, würde sie es können. Die Frage ist, warum sie es nicht wollen. Es stimmt übrigens nicht, dass Polen auf seine nationale Eigenständigkeit pocht. Es gibt kein pro-europäischeres Land als Polen. Polen hat eine der dynamischen Volkswirtschaft in Europa und will in den Euro. Das Kern-Europa kann man ohne Polen gar nicht errichten. Wir werden zukünftig vor der Frage stehen: Wird es einzelnen Mitgliedern der EU weiter erlaubt bleiben, mit ihren Interessen den ganzen Verein lahmzulegen. Spätestens 2017 steht das auf der Tagesordnung, wenn der jetzige Fiskalpakt in die EU-Verträge integriert werden muss. Dann müssen sich diese Staaten entscheiden.

Wie viel Zeit haben wir für dieses Europa-Projekt?

Schulz: Der Zeitdruck ist groß, und gleichzeitig müssen wir die Währung und die europäische Wirtschaft schützen. Man kann den Euro nicht retten, indem man über die politische Vision Europas im Jahr 2020 redet. Wir müssen beides gleichzeitig tun: Jetzt den Euro stabilisieren und jetzt an der politischen Union Europas bauen.

Helmut Schmidt hat gerade kritisiert, Deutschland habe eine zu national-egoistische Sicht auf Europa. Bremst Deutschland die europäische Einheit?

Schulz: Wie könnte ich einem so großen Staatsmann wie Helmut Schmidt widersprechen! Er hat ja Recht. Die Debatte in Deutschland und die Handlungen der Bundesregierung fallen eklatant auseinander. Frau Merkel hat in Brüssel fast allem zugestimmt, aber immer mit einem Zeitverzug. Der Grund für den Verzug war eine innerdeutsche Debatte, die den Eindruck erweckt, als ginge es in eine andere, eine nationale Richtung. Das kommt in Europa nicht gut an. Dadurch entsteht ein falscher Eindruck, denn wir Deutsche sind sehr solidarisch. Dass wir Europa und den Euro stabilisieren liegt aber dabei in unserem ureigensten Interesse. Das kommt oft zu kurz.

Sie meinen die Europa-skeptischen Äußerungen von Politikern wie Dobrindt oder Rösler?

Schulz: In Deutschland gibt es Politiker und auch Medien, die ein falsches Bild von „den Griechen“ oder „den Südländern“ verbreiten. In anderen Ländern arbeiten viele Politiker spiegelbildlich zu dem, was in Deutschland passiert. Dort gibt es antideutsche Ressentiments. Diese Stimmungsmache zeigt genau, wohin eine Rückkehr zu den alten Nationalstaaten führen würde. Die Völker würden wieder gegeneinander geschoben.