Essen. . Das Revier hat zwar viele große Städte, aber die werden immer kleiner. Glaubt man den neuen Prognosen, dann sinkt die Einwohnerzahl von Gelsenkirchen bis 2030 um 9,4 Prozent, die von Bochum um 8.5 Prozent. Bonn und Köln legen hingegen zweistellig zu. Warum hängt der Rhein die Ruhr ab? Eine Analyse.
Hilfe, das Revier schrumpft! Um sieben Prozent bis zum Jahr 2030. IT.NRW (das frühere Statistische Landesamt) wagt wieder einen Blick in die Zukunft der NRW-Städte, und für das Revier und angrenzende Städte sieht die Prognose düster aus. Klein und kleiner werden demnach bis zum Jahr 2030 so gut wie alle Kommunen in unserer Region. Beispiele: Oberhausen (minus 5500 Einwohner), Bottrop (minus 9300) und Hagen (minus 28000).
Köln legt zu um 10,4 Prozent auf über 1,1 Millionen Einwohner, Bonn soll um 11,5 Prozent auf 362 000 Bürger wachsen, Düsseldorf um 5,9 Prozent auf 623000. Was haben diese rheinischen Metropolen, was Essen, Herne oder Oberhausen nicht haben? Lässt sich der Trend vielleicht noch stoppen? Die WAZ hat mit Demografie-Experten gesprochen, und alle sind sich einig: Ja, die Vorhersage von IT NRW dürfte im Großen und Ganzen stimmen. Und: Nein, das Revier wird in den kommenden Jahrzehnten keine Chance haben, die Verluste wieder „reinzuholen“.
Die Attraktivität einer Stadt hängt von vielen Faktioren ab. Das Image spielt wohl eine Rolle. Man mag es gerne hören oder nicht: Köln hat bundesweit eher den Ruf, etwas Besonderes zu sein, als Essen oder Hagen. Auch nicht zu verachten: Reiche Städte wie Düsseldorf können ihren Bürgern mehr Service bieten als arme, und die Revierstädte sind zum Teil bettelarm. Viel wichtiger aber der gute Ruf und die Stadtfinanzen sind „Bildung, Hochschule und Wissenschaft“ sowie der örtliche Arbeitsmarkt.
Unis und Arbeitsplätze ziehen Menschen an
Carsten Große Starmann von der Bertelsmann-Stiftung hat am „Wegweiser Kommune“ mitgeschrieben, ein Informationssystem, das unter anderem die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland darstellt. Er bickt in unserer Frage „Rheinland vs. Ruhrgebiet“ vor allem auf die „Bildungswanderung“ der 18- bis 24-Jährigen. Diese Gruppe ist wichtig. Sie ist auf der Suche nach Bildung, nach beruflicher Qualifizierung und nach einem Ort zum Leben. Städte, die diese Gruppe gewinnen, haben sozusagen Zukunft. Den Metropolen am Rhein gelingt das. „Bonn und Düsseldorf gelten als gute Universitäts-, Bildungs und Ausbildungsstandorte“, sagt Carsten Große Starmann. „Und wenn die dort Ausgebildeten dann auch vor Ort einen Arbeitsplatz finden, dann bleiben sie.“
Die Chance, einen Job zu finden, ist im Rheinland größer als im Ruhrgebiet. Ein Extrembeispiel: In Gelsenkirchen liegt die Arbeitslosenquote derzeit bei 14,6 Prozent, in Bonn bei 6,8 Prozent. Das Image einer Stadt spielt nach Einschätzung von Starmann hingegen nur eine untergeordnete Rolle. „Die Leute gehen dorthin, wo sie arbeiten können. Außerdem bietet auch das Ruhrgebiet heute eine hohe Lebensqualität mit viel Grün und guten kulturellen Angeboten.“
Hans H. Blotevogel, früher Raumplaner an der TU Dortmund und heute Lehrbeauftragter an der Uni Wien, sagt: „Große Dienstleistungsmetropolen und bedeutende Uni-Standorte sind im Vorteil.“ In Bonn, Düsseldorf und Köln kommt beides zusammen. Nun lässt sich natürlich einwerfen, dass es im Revier die viel gerühmte „dichteste Hochschullandschaft Europas“ gibt. Für Blotevogel ist das allerdings kein starkes Argument. Der Professor sagt: „Die Zahl der Studierenden liegt im Ruhrgebiet in Bezug auf die Gesamtbevölkerung dort unter dem Landes- und unter dem Bundesschnitt. Es gibt dort zwar viele Studierende und Wissenschaftler, aber angesichts von fünf Millionen Einwohnern ist diese Zahl nicht so beeindruckend.“ Fläche ist übrigens ein Pluspunkt: Große Stadtgebiete bieten mehr Möglichkeiten, Wohnraum und Gewerbeflächen anzubieten. Dortmund ist eine flächenmäßig riesige Stadt, auch Köln bietet Größe.
Berlin und Köln sind beliebt
Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hält das Wachsen und Schrumpfen von Städten für das Ergebnis einer sich dramatisch verändernden Binnenwanderung: „Die Geburtenrate ist überall niedrig, aber die Wanderung nimmt zu. Vier Millionen Bundesbürger wechseln jedes jahr ihren Wohnsitz, es gibt aber jährlich nur rund 680 000 Geburten. Diese Wanderungen führen zu einem riesigen Konkurrengeschehen, vor allem zwischen den Städten und ländlichen Regionen.“ Die Gewinner, und dazu darf man Köln, Bonn und Düsseldorf zählen, profitieren gleich doppelt: Sie bekommen neue Bürger, und deshalb werden dort auch wieder mehr Kinder geboren. Bei den Zuwanderern handelt es sich eben häufig um junge Erwachsene (Stichwort: Bildungswanderung), und von denen werden Familien gegründet. Herwig Birg glaubt nicht, dass Bochum, Oberhausen oder Essen irgendeine Chance haben, diesen Trend zu stoppen.
Herwig Birg glaubt, dass das Image einer Stadt von herausragender Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung ist. „Nehmen wir Berlin. Die Stadt ist arm, aber hier passiert etwas. Alle glauben, man muss hier leben. Oder Köln. Diese Metropole steht für Geschichte, Kultur, Industrieunternehmen.“ Selten lässt sich das Image einer Stadt im Laufe weniger Jahre aufpolieren. Manchmal greift die Geschichte ein. Berlin, zum Beispiel, war durch die deutsche Teilung und den Mauerbau isoliert. Birg: In dieser Zeit galt München als heimliche Hauptstadt, viele Unternehmen siedelten sich dort an. man kann auch sagen: Berlin hatte damals Pech, und Köln hatte Glück.“
Dortmund hat vieles richtig gemacht
Der Sonderfall Dortmund: Die Westfalenmetropole wird zwar auch schrumpfen aber mit „nur“ minus 3,1 Prozent bis 2030 längst nicht so stark wie umliegende Städte. Dortmund ist, wie gesagt, groß. Die Stadt hat in den letzten 20 Jahren viele neue Baugebiete für junge Familien erschlossen. Mit 280 Quadratkilometern gehört Dortmund flächenmäßig zu den Giganten, hat nicht sehr viel weniger Platz als München mit mehr als doppelt so vielen Einwohnern, die sich 310 Quadratkilometer teilen müssen. Dortmund hat eine Technische Universität, Fachhochschulen, diverse namhafte Forschungsinstitute und ein Technologiezentrum. „Der Strukturwandel, also der Abschied von Kohle, Stahl und Bier, war in Dortmund besonders heftig“, erklärt Blotevogel. Dortmund habe diesen Wandel früh durchlitten und besser bewältigt als andere Städte und auf den Dienstleistungssektor gesetzt. „Wobei Dienstleistung nicht heißt: Friseurläden und Imbissbuden“, so Blotevogel.
Wachsende Städte wie Köln und Düsseldorf dürfen nicht nur jubeln. Sie müssen auch etwas für ihre neuen Bürger tun. Das ist teuer. Schon heute ist Wohnraum in rheinischen Großstädten knapp, die Mieten sind teuer. Neubürger brauchen Schulen, Kindergärten, Arbeitsplätze und Freizeitangebote. Im Ruhrgebiet ist das Wohnen vergleichsweise billig. Günstige Wohnungen gibt es zuhauf. „Eventuell werden die Revierstädte irgendwann einen kleinen Wettbewerbsvorteil haben, wenn im Rheinland keine Wohnungen mehr frei sind“, sagt Hans H. Blotevogel. Unterm Strich aber verheißt eine kleiner werdende Bevölkerung einer Stadt so gut wie keine Vorteile. Blotevogel: „Dann brechen die Steuereinnahmen weg, und dennoch muss die Stadt weiter eine funktionierende Infrastruktur bieten.“
Wer kann schon in die Zukunft sehen?
Aber wie realistisch ist überhaupt die Prognose von IT.NRW zur Bevölkerungsentwicklung an Rhein und Ruhr. Die Experten glauben, dass der Trend ganz klar in diese Richtung gehe. Dennoch: „Man darf diese Prognosen nicht als Prophezeihung verstehen, das ist sehr spekulativ“, wirft Blotevogel ein. Die Vorhersage wird abgeleitet aus der Entwicklung der letzten Jahre. Diese Entwicklung wird dann einfach fortgeschrieben. Die Vergangenheit hat gezeigt: Nichts ist so schwer zu beschreiben wie die Zukunft.