Athen. Bis November 2011 regierte die “Nea Demokratia“ allein in Griechenland, 44 Prozent holte die Partei bei der letzten Wahl. Am Sonntag schenkten ihr nur noch 13 Prozent der Wähler das Vertrauen. Den anderen etablierten Parteien geht es nicht besser. Gewinner sind Extremisten von links und rechts.

Eine "Nacht des Schreckens" hatte die Sonntagszeitung "Proto Thema" ihren Lesern angekündigt, Griechenland drohe "unregierbar" zu werden. Die düstere Vorahnung sollte sich bewahrheiten. Gebannt verfolgten Millionen Griechen bis in die frühen Morgenstunden vor den Fernsehern den Zusammenbruch ihrer politischen Ordnung. "Ja zur Erneuerung, nein zur Selbstzerstörung" appellierte das Massenblatt "Ta Nea", und die Zeitung "Kathimerini" erinnerte daran, der Wahlsonntag sei ein "Tag der Verantwortung für alle". Doch das beherzigten nicht alle. Auch die Mahnung des Staatspräsidenten Karolos Papoulias, man möge "mit klarem Kopf" zur Wahlurne gehen, bewirkte nichts. Das Land im fünften Jahr der Rezession, 22 Prozent ohne Job, unter den Jugendlichen sogar jeder zweite arbeitslos, die Renten gekürzt, die Einkommen allein im vergangenen Jahr um ein Viertel geschrumpft: wer kann da kühlen Kopf bewahren? Die Griechen haben gewählt - und ein politisches Erdbeben ausgelöst. Jetzt stehen sie vor den Trümmern ihres politischen Systems. Und in den Ruinen beginnt politisches Unkraut zu sprießen.

Einen Vorgeschmack dessen, was auf das Land zukommen könnte, bekamen Journalisten am Sonntagabend bei der Pressekonferenz der neofaschistischen Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte). Die Partei kam auf sieben Prozent und wird mit 21 Abgeordneten im neuen Parlament sitzen. "Aufstehen, der Führer kommt", dröhnte es aus den Lautsprechern, als Nikos Michaloliakos den Saal betrat, der Parteichef. Weil die Journalisten sich nicht von ihren Plätzen erhoben und den Hitlergruß verweigerten, den die Anhänger der Partei ihrem Führer entbieten, wurden sie von schwarzgekleideten Ordnern unsanft aus dem Saal befördert.

Rechtsradikale Parlamentarier zeigen den Hitler-Gruß

Ganz ohne Medien wollte Michaloliakos seinen Sieg aber auch nicht feiern. Deshalb durften einige ausländische Reporter im Saal bleiben. Sie erzählten ihren griechischen Kollegen anschließend, wie es war: "Veni, vidi, vici", erklärte Michaloliakos, ich kam, ich sah, ich siegte - der Führer in der Pose eines römischen Imperators. "Der Kampf geht weiter, innerhalb und außerhalb des Parlaments", rief der Parteichef, "wir kommen!" Ältere Griechen erinnern sich noch aus der Zeit der deutschen Besatzung an den Hitlergruß. Jetzt werden sie ihn wohl im Parlament sehen.

Nichts ist wie es war in Griechenland - und keiner scheint zu wissen, was nun werden soll. In Athen bahnt sich ein politisches Chaos an. In den ersten Hochrechnungen hatte sich noch eine knappe Mehrheit der Mandate für die beiden Traditionsparteien abgezeichnet, Konservative und Sozialisten, die zuletzt den Sparkurs gemeinsam stützten. Aber je mehr Stimmen ausgezählt wurden, desto schneller schmolz diese Mehrheit dahin. Am brutalsten traf die Wut der Wähler die Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok), die das Land vom Oktober 2009 bis zum November 2011 allein regierte. Sie verlor mehr als zwei Drittel ihrer Wähler, stürzte von 44 auf 13 Prozent ab. Nicht viel besser erging es der konservativen Nea Dimokratia (ND). Sie ging zwar als stärkste Partei aus der Wahl hervor, aber von Stärke kann man angesichts eines Stimmenanteils von 19 Prozent eigentlich nicht sprechen.

Der Sieger des Wahlabends kommt vom "Bündnis der radikalen Linken" 

Der Sieger des Wahlabends heißt Alexis Tsipras. Der erst 36-Jährige führt das "Bündnis der radikalen Linken" (Syriza), das seinen Stimmenanteil gegenüber 2009 mehr als vervierfachte und mit fast 17 Prozent zweitstärkste Partei wurde. Tsipras kommt aus der griechischen Studentenbewegung. Sein politischen Aussagen sind widersprüchlich: einerseits möchte er an Griechenlands Mitgliedschaft in der Währungsunion und der EU festhalten, andererseits will er den Schuldendienst einseitig einstellen und die Verträge über die Hilfskredite aufkündigen. Tsipras kündigt Verstaatlichungen und Masseneinstellungen im Staatsdienst an. Wie sich das alles miteinander vereinbaren lässt, hat er im Wahlkampf nicht verraten. Aber das ist ein Dilemma, mit dem viele Menschen hadern: In Umfragen lehnen acht von zehn Griechen den Sparkurs ab. Fast ebenso viele wollen aber den Euro behalten.

Nach dieser Wahl ist es allerdings fraglicher denn je, ob Griechenland eine Zukunft in der Währungsunion hat. Die Athener Börse ging am Montag auf steile Talfahrt. Der ehrgeizige konservative Parteichef Antonis Samaras mag sich fragen, ob es richtig war, diese vorzeitigen Wahlen herbeizuführen. Wäre es nicht klüger gewesen, die regulär bis Oktober 2013 laufende Legislaturperiode mit dem Übergangspremier Lucas Papademos in voller Länge durchzustehen, um das Land aus der Gefahrenzone zu führen?

Der Chef der demokratischen Linken bringt Regierungserfahrung mit

Die in den vergangenen Wochen geäußerte Absicht, die Griechen erneut wählen zu lassen, falls sie ihm die angestrebte absolute Mehrheit der Mandate verweigern, hat Samaras immerhin fallengelassen. Am Montag erteilte ihm Staatspräsident Papoulias den Auftrag, die Möglichkeiten einer Regierungsbildung zu sondieren. Vor der Wahl lehnte Samaras eine Fortsetzung der Koalition mit den Sozialisten strikt ab. Jetzt hätte er sie wohl gern. Aber es reicht nicht. Zusammen kommen die beiden Spar-Parteien nur auf 149 der 300 Mandate. Samaras will sich nun um eine "Koalition der nationalen Rettung" bemühen. Rechnerisch ginge das, wenn er neben den Sozialisten zum Beispiel die 33 Abgeordneten der Partei ?Unabhängige Griechen? (AE) für eine Regierungsbeteiligung gewinnen könnte - aber politisch?

Der AE-Chef Panos Kammenos ist ein abtrünniger ND-Politiker, der einen ultra-nationalistischen Kurs steuert. Er will die Banken verstaatlichen, dem Internationalen Währungsfonds den Stuhl vor die Tür setzen und Griechenlands Finanzproblem mit deutschen Reparationszahlungen für die Nazi-Besatzung im 2. Weltkrieg lösen. Diese exzentrischen Absichten machen Kammenos nicht gerade zu einem idealen Partner für Samaras. Politisch käme als dritter Partner am ehesten die Partei "Demokratische Linke" in Frage. Ihr Chef Fotis Kouvelis ist eine Art politisches Urgestein der nicht-kommunistischen griechischen Linken. Kouvelis ist angesehen, gilt als integer und hat als früherer Justizminister sogar etwas Regierungserfahrung. Auch ist er ein überzeugter Europäer und will am Euro festhalten. Er wünscht Korrekturen am Sparkurs, um die Lasten des Programms gerechter zu verteilen, stellt aber das Hilfspaket nicht grundsätzlich in Frage. Seine Position ist damit nicht weit von der des ND-Chefs Samaras entfernt.

Drei Tage Zeit für die Regierungsbildung

Nach Artikel 37 der griechischen Verfassung hat Samaras jetzt drei Tage Zeit, die Möglichkeiten einer Regierungsbildung zu sondieren. Bleibt er erfolglos, geht der Auftrag an Alexis Tsipras als den Chef der zweitstärksten Partei über. Er will sich um die Bildung einer Links-Koalition bemühen. Tsipras versuchte bereits vor der Wahl Aleka Papariga zu ködern, die Chefin der stalinistischen Kommunistischen Partei, die das Parlament abschaffen und die Diktatur des Proletariats ausrufen will: Tsipras bot ihr den Posten der Ministerpräsidentin an. Papariga lehnte dankend ab. Sie will keine Regierung sondern eine Revolution. Aber Tsipras lässt sich nicht entmutigen. Er setzt auf den Druck der Straße: Wenn es im Plenarsaal nicht für eine Mehrheit reicht, will er eine halbe Million Anhänger vor dem Parlament aufmarschieren lassen. "Dann werden wir ja sehen, ob wir das Vertrauensvotum gewinnen", frohlockt Tsipras.