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Frankreichs Präsident Sarkozy hat Deutschlands Reformkraft zum Vorbild erklärt. Im Wahlkampf schadet ihm das. Gegenkandidat Hollande punktet mit der Ablehnung von Merkels Schuldenbremse. Im Länder-Vergleich wird deutlich, warum sich die Franzosen mit dem Sparen so schwer tun.

Die aktuelle Lage

Frankreich: Sarkozy versprach den Franzosen beim Amtsantritt 2007, die Arbeitslosenquote unter fünf Prozent zu drücken. Tatsächlich stieg sie auf 9,8 Prozent (nach europäischer Zählweise 10,0 Prozent). Von den Jugendlichen ist sogar jeder vierte arbeitslos. Beim Wachstum liegt Frankreich im europäischen Schnitt, ist aber keine Lokomotive mehr. Im Boomjahr 2011 waren es 1,7 Prozent. Die Staatsverschuldung wuchs unter Sarkozy um 500 Milliarden auf 1,74 Billionen Euro – das sind pro Kopf 26 764 Euro. Mit einem Haushaltsdefizit von 5,2 Prozent lag Paris zuletzt deutlich über der von Brüssel geforderten Drei-Prozent-Marke. Die Ratingagentur S&P entzog dem Land die Top-Bonität.

Deutschland: Im April kam der deutsche Arbeitsmarkt ins Stocken, doch die Arbeitslosenquote ist mit 7,0 Prozent (nach europäischer Zählweise 5,6 Prozent) so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht. Nur jeder 20. Jugendliche ist arbeitslos. In den vergangenen beiden Jahren war Deutschland mit Wachstumsraten von 3,7 und 3,0 Prozent die Lokomotive Europas. Die Staatsschulden sind dennoch auf über zwei Billionen Euro gestiegen, pro Kopf 24 707 Euro. Deutschland drückte sein Haushaltsdefizit 2011 dank sprudelnder Steuereinnahmen aber auf 1,0 Prozent.

Die Sozialkassen 

Frankreich: Die Rente mit 60 zählte zu den großen Reformen der Ära Mitterrand, war aber nicht mehr finanzierbar. Sarkozy erhöhte trotz massiver Proteste das Renteneintrittsalter auf 62 Jahre, was Hollande wieder rückgängig machen will. Frankreich leistet sich eines der teuersten Sozialsysteme der Welt. Das sorgt mit dafür, dass die Arbeitskosten von 34,20 Euro pro Stunde zu den höchsten in Europa gehören.

Deutschland: Deutschland führt die Rente mit 67 ein und senkt das Rentenniveau ab. Beides soll die Beiträge langfristig stabil halten. Durch den Aufschwung am Arbeitsmarkt haben sich die Arbeitslosenbeiträge seit 2006 von 6,5 Prozent auf 3,0 Prozent mehr als halbiert. Teuer bleibt das Gesundheitssystem. Der Einheitsbeitrag von 15,5 Prozent ist einer der höchsten in Europa. Politischer Konsens ist seit Jahren, die Arbeit durch stabile Beiträge nicht weiter zu verteuern. Auch deshalb sind die Arbeitskosten langsamer gestiegen als im übrigen Europa – auf zuletzt 30,10 Euro pro Stunde.

Die Reformen 

Frankreich: Den Franzosen eilt der Ruf voraus, ein ausgesprochen reformunwilliges Volk zu sein. Es heißt: Frankreich sei zwar fähig zur Revolution, aber nicht zur Reform. Das Land ist über Jahrzehnte hinweg mit Privilegien für einzelne Lobbygruppen überzogen worden. Nur der ohnehin schwache Mittelstand geht leer aus. Grundsätzlich gilt: Französische Produkte sind zu teuer für den Weltmarkt. Deshalb importiert das Land mehr als es exportiert: Das Außenhandelsdefizit kletterte unter Sarkozy von 42 auf 70 Milliarden Euro. Umstritten bleibt die von den Sozialisten eingeführte 35-Stunden-Woche. Sarkozy hat sie aufgeweicht.

Deutschland: Noch immer wird die Agenda 2010 als Sinnbild deutscher Reformfähigkeit genannt. Den Hartz-Gesetzen wird ein gewisser Anteil an den sinkenden Arbeitslosenzahlen zugeschrieben. Zukunftsweisender waren jedoch die Rentenreformen 2002 und 2006 (Rente mit 67). Sowohl Hartz IV als auch die Rentenreformen verlangen den Bürgern einiges ab, zudem wurden im Gesundheitssystem mehr Kosten auf die Versicherten übertragen. Trotz allem hat die Kauflaune offenbar kaum gelitten – die gute Konjunktur wurde zuletzt vor allem der Binnennachfrage zugeschrieben.

Die Staatsquote 

Frankreich: Zwar hat Sarkozy den Apparat um 150 000 Beamte auf 5,5 Millionen Staatsdiener abgebaut. Doch immer noch kommen 90 Staatsdiener auf 1000 Einwohner. Selbst unter Sarkozy stieg die Staatsquote von 52 auf 56 Prozent – weit über internationalem Durchschnitt. Das heißt: Mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung erbringt der Staat selbst. Die mächtige Bürokratie erdrückt den Markt, zumal der Staat an vielen Konzernen beteiligt ist und diese mit Steuer-Erleichterungen und Investitionsprogrammen päppelt.

Deutschland: Auch in Deutschland war der angeblich überbordende Staat lange ein Thema. Seit einem guten Jahrzehnt sinkt jedoch unter den verschiedensten Regierungen die Staatsquote kontinuierlich – von 48 auf zuletzt 45,6 Prozent. In Deutschland kommen 50 Staatsdiener auf 1000 Einwohner, kaum mehr als halb so viele wie in Frankreich. Dennoch wird in den Verwaltungen weiter Personal abgebaut.

Die Aussichten 

Frankreich: Für 2012 wird ein Wachstum von 0,4 Prozent erwartet, die Arbeitslosigkeit soll weiter steigen. „Frankreich braucht eine Strukturreform, sonst wird es zum Sorgenkind Europas, das andere ansteckt“, warnt Joachim Bitterlich, früherer Kohl-Berater und heute Manager des Pariser Konzerns Veolia. Er rät Frankreich, sich die „Agenda 2010“ zum Vorbild zu nehmen. Und er vermisst einen „fruchtbaren Dialog von Arbeitgebern und Gewerkschaften“.

Deutschland: Für dieses Jahr erwartet die Regierung magere 0,6 Prozent Wachstum, ab dem Herbst soll die Konjunktur aber wieder anziehen. Mittelfristig ist Deutschland als Export-Europameister davon abhängig, ob sich der Euroraum stabilisiert, zwei Drittel aller Ausfuhren gehen in EU-Länder. Das erklärt, warum Deutschland an potenten Partnern noch interessierter ist als das Importland Frankreich. Paris müsste zudem für die Einhaltung des Fiskalpakts wegen des Reformstaus noch größere Opfer bringen als Berlin seinen Bürgern bereits abverlangt hat.