Paris. . Der französische Präsident sieht sich in einem Umfragetief. Vor der Wahl will er mit Gerhard Schröders Sozialreformen Punkte machen.

Das Protokoll des Elysée hat für das große Sarkozy-Interview wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Als Schauplatz des Fernsehspektakels haben die Zeremonienmeister an diesem Sonntagabend den prunkvollen Empire-Festsaal des Palastes ausgewählt. Nicht weniger als acht Fernsehsender haben sich zur besten Sendezeit zugeschaltet, vor den Bildschirmen hocken über 16 Millionen Franzosen: die „Sarko-Show“ – ein Straßenfeger. Zum letzten Mal?

Den meisten vergeht bei dem kargen Menü, das Chefkoch Sarkozy der Nation in den folgenden 72 Minuten verabreicht, sehr schnell der Appetit. Zwar versucht der Präsident, die Anhebung der Mehrwertsteuer um 1,6 Punkte auf 21,2 Prozent als Einführung einer „sozialen Mehrwertsteuer“ schmackhaft zu machen, um die Unternehmen so von der drückenden Last der Lohnnebenkosten zu befreien und wettbewerbsfähiger zu machen. Gut zehn Milliarden Euro sollen dadurch in die Staatskasse fließen. Aber sein vollmundiges Versprechen, die Preise würden trotzdem stabil bleiben, hat einen ebenso faden Beigeschmack wie die Ankündigung, durch gezielte Betriebsvereinbarungen endlich aus dem strengen Korsett der 35-Stunden-Woche ausbrechen zu wollen. Obendrein verkündet er, dass Frankreich als erstes EU-Land die umstrittene Finanztransaktionssteuer in Höhe von 0,1 Prozent einführen werde.

Die zweitgrößte Wirtschaftsnation in Europa schreibt derzeit rote Zahlen: Die Arbeitslosenquote ist mit 9,8 Prozent erschreckend hoch und das Wachstum (Plus 0,5 Prozent) im Keller, hinzu kommen ein Rekorddefizit im Außenhandel und eine Neuverschuldung von über 5 Prozent – Einzelposten, die sich für die auf Weltrang bedachten Franzosen zum schmachvollen Verlust der Top-Bonität summiert haben. Was bleibt Küchenmeister Sarkozy unter diesen widrigen Vorzeichen anderes übrig, als der Nation, die systematisch über ihre Verhältnisse zu leben liebt, eine strenge Diät zu verpassen?

Götterdämmerung im Elysée-Palast

Sein Problem: In gut achtzig Tagen wählt Frankreich einen neuen Präsidenten. Der sozialistische Herausforderer François Hollande, der gerade sein 60-Punkte-Regierungsprogramm vorstellte, hat sich in Umfragen einen komfortablen Vorsprung vor dem unpopulären Staatschef herausgearbeitet. Im Elysée macht sich Götterdämmerung breit.

Nicolas Sarkozy wirkt an diesem Abend konzentriert, zupackend und in seiner schonungslosen Analyse sogar über weite Strecken überzeugend. Hinter den TV-Kameras drückt ihm Carla Bruni, Töchterchen Giulia in ein Tuch eingeschlagen, die Daumen. Sarkozy macht keinen Hehl daraus, dass er Deutschland als leuchtendes Vorbild betrachtet. Während die französische Industrie wegen hoher Lohnnebenkosten Zigtausende Jobs ins Ausland verlagere, doziert der „Wirtschaftsweise“ Sarkozy, habe Deutschland seine Sozialsysteme längst erfolgreich modernisiert und die exportorientierte Wirtschaft wettbewerbsfähig gemacht.

Der unermüdliche Wahlkämpfer

Ein Verdienst, das er freilich nicht der sonst vielgerühmten „Madame Merkel“, sondern ihrem sozialdemokratischen Vorgänger Gerhard Schröder gutschreibt. Es ist nicht lange her, da lud Sarkozy den Altkanzler sogar in den Elysée ein und ließ sich von ihm die umstrittene „Agenda 2010“ erklären. Jetzt lobt er Schröder und seine „schmerzhaften Reformen“ von 2003. Und fragt mit einem Unterton der Verzweiflung: „Sie haben funktioniert. Warum klappt es nicht auch bei uns?“

Sarkozy, der unermüdliche Wahlkämpfer, mag in diesem Moment nicht nur an Frankreich, sondern auch an sein eigenes Schicksal gedacht haben. Kaufen ihm die Franzosen seine neue Rolle als Sanierer ab, könnte er in allerletzter Sekunde den Kopf aus der Schlinge ziehen. Ansonsten droht ihm dasselbe Schicksal wie seinem neuen Vorbild Gerhard Schröder: die Abwahl.