Essen. . Diie rot-grüne Minderheitsregierung hat die verpflichtende Grundschulempfehlung abgeschafft - trotzdem entscheiden in NRW nach wie vor die Grundschullehrerinnen darüber, ob ein Kind nach der vierten Klasse eine Hauptschule, eine Realschule oder das Gymnasium besucht.

Obwohl die rot-grüne Minderheitsregierung die verpflichtende Grundschulempfehlung abgeschafft hat, entscheiden in NRW nach wie vor die Grundschullehrerinnen darüber, welche Schulform ein Kind nach der Grundschule besucht.

Dies hat eine WAZ-Befragung von Schulen und Verbänden ergeben. Zwar dürfen Schulen ein Kind aufgrund des Grundschulgutachtens nicht mehr ablehnen. Faktisch aber werden in Einzelgesprächen die Eltern so lange „überzeugt“, bis sie eine andere Schulform suchen. „Die Schulleiter führen in der Regel intensive Gespräche“, sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Lehrerverbandes Bildung und Erziehung, „die Eltern klar machen, dass das Kind mit einer Hauptschulempfehlung wahrscheinlich auf der Realschule überfordert ist.“ Auch die Grundschulexpertin der Lehrergewerkschaft GEW, Rixa Borns, berichtet von dieser Praxis.

Es ist noch nicht lange her, da herrschte bereits in den dritten Grundschulklassen Panik. Eine Drei im Diktat, eine Mathearbeit versemmelt, bei der Vera-Vergleichsarbeit die Aufgaben nicht kapiert – war es das nun mit dem Gymnasium? In den Jahren 2006 bis 2010 entschieden schließlich die Grundschullehrerinnen mit ihren Gutachten über die Schullaufbahn ihrer Schülerinnen und Schüler. Wenn „Realschule“ auf der Empfehlung stand, mussten die Eltern ihren Kindern mit dem dreitägigen Prognose-Unterricht ein aufwendiges Testverfahren zumuten, wenn sie dennoch den Besuch auf einem Gymnasium durchsetzen wollten.

Die rot-grüne Minderheitsregierung beendete 2010 die Macht der Grundschullehrer. Der Elternwille sollte entscheidend sein bei der Wahl der Schulform. Seitdem dürfen sie kein Kind mehr ablehnen, weil es ihnen aufgrund der Grundschulbeurteilung als nicht geeignet erscheint für das Gymnasium oder die Realschule.

Gewerkschaft: „Mitunter wird den Eltern Angst gemacht“

Herrscht nun Anarchie? Stürmen Schüler mit Hauptschulempfehlung Realschulen und Gymnasien? In der Tat wird der Andrang vermeintlich nicht geeigneter Kinder an den höheren Schulformen größer. Für viele Schulen ändert sich aber wenig – weil sie Eltern so lange beraten, bis sie ihr Anliegen zurückziehen und ihr Kind an einer anderen Schule anmelden.

Zum Beispiel beim Oberhausener Elsa-Brändström-Gymnasium, eine Schule, die aufgrund ihrer Montessori-Pädagogik und Begabtenförderung einen guten Ruf hat. Dort spricht die Schulleiterin Brigitte Fontein mit Eltern und Kindern, weist auf die Risiken hin und warnt vor Überforderung. „Eltern merken dann in der Regel, dass der Besuch des Gymnasiums schwierig werden könnte und entscheiden sich für eine andere Schulform“, sagt Brigitte Fontein.

Die Essener Elsa-Bränd­ström-Realschule ist stolz auf ihr hohes Niveau, zu dem auch bilingualer Unterricht gehört. Mit Hauptschulempfehlung sei das kaum zu schaffen, sagt der stellvertretende Leiter der Schule, Andreas Roy-Werner. Dort laufe die Beratung darauf hinaus, Eltern und Kindern die Haupt- oder Gesamtschule nahe zu legen.

Bei diesen Gesprächen werde den Eltern mitunter auch Angst gemacht, glaubt allerdings Rixa Borns, Landesvorsitzende der Fachgruppe Grundschule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. „Sie haben dann das Gefühl, ihr Kind habe ohnehin keine Chance, die Erprobungsstufe zu überstehen,“

Das Niveau soll bleiben

In der Tat wollen Gymnasien und Realschulen mit ihrer Beratung erreichen, dass sie ihr Niveau halten. So bezeichnet der Vorsitzende des Westfälisch-Lippischen Lehrerverbandes, Rüdiger Käuser, die Beratung an den Schulen als durchaus erfolgreich: „Die Freigabe des Elternwillens hat an Gymnasien unterm Strich zu keiner wesentlichen Veränderung der Schülerstruktur geführt.“ Allenfalls in ländlichen Regionen mit wenigen Alternativen komme es öfter vor, dass Eltern trotz anderer Empfehlung ihr Kind unbedingt aufs Gymnasium schicken wollen, sagt der Schulleiter des Siegener Fürst-Johann-Moritz-Gymnasiums.

Mitunter setzen sich aber auch Eltern durch, und zwar erfolgreich: „Einige Kinder entwickeln sich tatsächlich besser, als wir es erwartet haben“, räumt Schulleiterin Brigitte Fontein ein. Manche seien eben Spätstarter. Meistens seien die Erfahrungen aber andere, sagt sie – weshalb sie sich von beratungsresistenten Eltern unterschreiben lasse, sie seien auf das Risiko hingewiesen worden, dass das Kind das Gymnasium eventuell wieder verlassen müsse.

Barbara Wiesemann, Leiterin der Annette-von-Droste-Hülshoff-Realschule in Bochum, erzählt von ihren schlechten Erfahrungen. Im vergangenen Jahr hatte sie Kinder mit Hauptschulempfehlung aufgenommen. Leider hätten manche nicht die Förderangebote der Schule angenommen. „Ich würde mir wünschen, dass die Grundschulempfehlung wieder verbindlich wird“, sagt sie nun. Norbert Schwarzkopf, Leiter der Lessing-Realschule in Gelsenkirchen, musste 2011 ein Drittel Schüler mit Hauptschul- oder eingeschränkter Realschulempfehlung aufnehmen. „Für mich sind die Empfehlungen kein Evangelium. Aber tendenziell sind sie meist richtig. Wir können nur appellieren und beraten.“

Juristisch zählt nur das Losverfahren

Und was tun, wenn es mehr Bewerber als Plätze an einer Schule gibt? „Das einzige juristisch haltbare Verfahren ist das Losverfahren“, erklärt der Bochumer Schulverwaltungsamtsleiter Ulrich Wicking. „In Zeiten der Inklusion kann ich nicht jemanden ablehnen, weil er die falsche Empfehlung hat.“ Harald Willert, Sprecher der Schulleitervereinigung NRW, präzisiert: „Jedes Kind hat Anspruch auf einen Platz in der Schulform, aber nicht in der Schule seiner Wahl.“

Direktorensprecher Rüdiger Käuser warnt in dem Zusammenhang vor einem Abschulungsverbot, wie es derzeit diskutiert wird. „Wenn wir Kinder, die bei uns nicht mitkommen, nicht rechtzeitig an eine Realschule weiterleiten dürfen, kann es passieren, dass sie am Ende ohne jeden Abschluss abgehen müssen. Wer den Elternwillen zum Maßstab macht, solange Gymnasien bei ihren Strukturen bleiben, muss das bedenken.“