Berlin. . Die Bundeskanzlerin startet einen Bürgerdialog im Internet. Die Themen: Wie wollen wir (zusammen)leben – und wovon? Diskussion wird per Livestream auf Youtube übertragen. 120 Experten beraten das Projekt, das auf Denglisch wohl Thinktank heißen würde.
Es ist ganz allein ihr Ding. Ihre Denkschule. Ohne Parlament, ohne ihre Minister, ohne Parteien, ohne politische Stiftungen. Sie alle bleiben in Angela Merkels Bürgerdialog außen vor. Seit dem letzten Sommer lässt sich die Kanzlerin von etwa 120 Experten beraten, meist Wissenschaftlern. Bislang hat sie es geheim gehalten. In der nächsten Phase sucht die Kanzlerin den virtuellen Draht zum Volk. Zum 1. Februar, so kündigte sie es zu Silvester an, startet sie eine Internetplattform.
Bis 15. April kann jeder mit Angela Merkel in Kontakt treten. Bei drei Veranstaltungen will die Kanzlerin 100 Bürgern jeweils 90 Minuten lang Rede und Antwort stehen: Am 29. Februar in Erfurt, am 14. März in Heidelberg, am 28. März in Bielefeld. Jede Runde wird als Livestream über einen Youtube-Kanal der Regierung übertragen. Bürgerbeteiligung ist das Gebot der Stunde — Vorbild sind die „Town-Hall-Meetings“ in den USA.
Es geht um drei Fragen: Wie wollen wir zusammenleben? (Erfurt) Wovon wollen wir leben? (Bielefeld) Und wie wollen wir lernen? (Heidelberg). Zu jeder Frage bildeten die Experten sechs Untergruppen, insgesamt 18. Wer sich zum Beispiel mit der Frage befasst „Wie wollen wir zusammenleben?“, redet im Detail über das Zusammenleben der Generationen oder über die Familie. Der Horizont reicht bis 2020. Die langen Linien. Aber andererseits sind neun Jahre auch so nah, dass man konkrete Empfehlungen schlecht auf die lange Bank schieben kann.
Draht zum Volk
Auf Sinnsuche war noch jeder Kanzler, Merkel womöglich mehr als andere, da sie in der Euro-Krise oft ad hoc entscheiden musste. Jeder Regierungschef hatte natürlich eine Planungs- und Grundsatzabteilung oder Berater und Räte. Aber so wie Merkel hat noch kein Kanzler systematisch den Draht zum Volk gesucht. Im Sommer will man Bilanz ziehen, alle Beiträge in einem Buch veröffentlichen. Es sei ein „offener Prozess“, heißt es in Regierungskreisen.
Mit jeder Arbeitsgruppe hat die Kanzlerin zwei Mal diskutiert, einmal saß man in Schloss Meseberg zusammen. Etliche Stunden hat sie investiert, die Experten erst recht. Mit zwei Professoren hat die WAZ gesprochen, mit dem Altersforscher Andreas Kruse aus Heidelberg sowie mit Dieter Spath, der das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart leitet.
„Die Kanzlerin hört sehr gut zu“, berichtet Spath. Die Debatte sei anregend, „wahrscheinlich, weil sie ähnlich analytisch ist wie wir“. Kruse empfindet die Treffen ebenfalls als Gewinn, „ich fühle mich nicht ausgenutzt“. Es sei keine akademische Diskussion. „Was packt man an? Die Frage stellen wir uns schon“, versichert Spath. Da kommt ihnen zugute, dass die Politik vielen von ihnen nicht fremd ist und dass ihr Rat auch schon häufig gefragt war.
„Ein weiterer Beleg für Merkels präsidialen Stil“
Das Kanzleramt nimmt keinen Einfluss auf das Ergebnis, stellt bloß den organisatorischen Rahmen. „Sonst käme nur Schneegestöber dabei raus“, weiß Spath. So wurden alle angehalten, die Stellungnahmen bis zum 19. Dezember 2011 einzureichen. Es war Merkels Weihnachtslektüre. Als sich die Kanzlerin nach dem Urlaub zurückmeldete, war sie gut vorbereitet und entschlossen, den Dialog mit den Bürgern anzugehen.
Es war mal eine Silvesteransprache mit Folgen. Die SPD sieht der „Road-Show“ misstrauisch entgegen. Für Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ist sie noch ein Beleg für Merkels präsidialen Stil.