Gelsenkirchen. Der Chef des Jobcenter Gelsenkirchen kritisiert: Die Berechnungen sind extrem kompliziert und binden viel Personal. Das würde er lieber in der Jobvermittlung und der Einzelfall-Betreuung einsetzen.
Was einst als Vereinfachung gedacht war, hat sich zu einem Bürokratie-Monster entwickelt: Hartz IV. Dabei sollte mit dessen Einführung genau das Gegenteil erreicht werden. Die Gründer-Väter, unter anderem Peter Hartz, ehemals Manager bei VW, und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, wollten auch den Verwaltungsaufwand reduzieren. Die Bedürftigen sollten ihr Geld (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe) „aus einer Hand“ bekommen. Alles sollte so transparenter werden. Doch inzwischen, kritisiert Heinrich Alt, Vorstands-Mitglied der Bundesagentur für Arbeit, setzten die Jobcenter die Hälfte ihrer Mitarbeiter nur für die Berechnung der Leistungen ein. Sie sei alles andere als einfacher geworden. „Die durchschnittliche Akte eines Hartz-IV-Haushalts beläuft sich auf ungefähr 650 Seiten“, sagte Alt der „Süddeutschen Zeitung“.
Eine Zahl, die Reiner Lipka, Geschäftsführer des Jobcenters Gelsenkirchen, nur zu gut kennt. „Das Leistungs-Recht ist extrem kompliziert“, beklagt er. Und das habe nichts mit den Hartz-IV-Empfängern zu tun, Schuld habe der Gesetzgeber. „Seit 2005 hat es rund 50 gesetzliche Änderungen gegeben“, weiß der Mann der Praxis. „Und die EDV hinkt immer einige Monate hinterher.“
Dreh- und Angelpunkt der komplizierten Berechnungen sei die Tatsache, dass die Hilfen nicht für eine einzelne Person berechnet würden, sondern dass die Zahlungen von der „Bedarfsgemeinschaft“, also der Familie abhängen. „Und für Patchwork-Familien kann das sehr kompliziert sein.“
Ein Beispiel: In einer Hartz-IV-Familie lebt ein Jugendlicher, der vielleicht einen Monat lang eine Arbeit hat, anschließend aber nicht mehr. Hat er Arbeit, zieht er aus, später zieht er wieder zu den Eltern. „Dann muss der Bedarf neu berechnet werden. Und alles muss genauestens dokumentiert werden.“ Es gebe Leistungs-Berechnungen, gibt der Geschäftsführer der Integrationscenter für Arbeit zu, „die sind so kompliziert, dass ich selbst sie nicht auf den ersten Blick verstehe“.
Alles muss dokumentiert werden
Ein anderes Beispiel: Die Eltern beantragen Geld für die Klassenfahrt des Kindes. „Dann muss die Familie die Fahrt ja nachweisen.“ Das Jobcenter dokumentiert alles so genau, weil sowohl die Stadt wie auch die Bundesagentur Unterlagen nachprüften.
Oder aber die Akten werden fürs Gericht gebraucht. Schließlich klagten ja immer mehr Hartz-IV-Empfänger Ansprüche ein, sagte Heinrich Alt von der Bundesagentur der SZ. „Jemand hat mal Beerdigungskosten für sein Haustier beantragt.“ Das liege auch daran, so Alt, „dass es für Hartz-IV-Empfänger Prozesskostenhilfe gibt und sich daher solche Prozesse ohne finanzielles Risiko führen lassen“.
Das alles erhöht die Bürokratie, bindet Personal; Personal, das Reiner Lipka lieber für die Job-Vermittlung einsetzen würde. „Ich wünsche mir einfachere Gesetze“, antwortet der Geschäftsführer des Jobcenters auf Anhieb, wenn er nach einer Verbesserung der Lage gefragt wird. Der Grundgedanke von Hartz sei richtig, findet er: Anders als bei der Sozialhilfe müssten sich die Menschen jetzt nicht mehr als Bittsteller fühlen; nicht mehr fürchten, die Gewährung ihrer Ansprüche hänge auch vom Wohlwollen des Sachbearbeiters ab. Aber das Prinzip hinter Hartz IV funktioniere nicht.
„Das Prinzip funktioniert nicht“
Das Prinzip war: Es gibt eine Pauschale, die leicht höher ist als die Sozialhilfe. Davon müssen die Empfänger Geld zurücklegen, etwa für einen neuen Kühlschrank. Doch schon 2005 fragten Wohlfahrtsverbände: Wie soll das gehen, von 360 Euro Geld zurücklegen?
Zurück zur Sozialhilfe will Lipka nicht. Statt dessen plädiert er für eine stärkere Pauschalierung der Leistungen. Und: „Es sollte Bagatellgrenzen bei Rückzahlungen geben.“ Es sei unsinnig, 10 Euro, die vielleicht mal zu viel gezahlt würden, zurückzufordern. „Dafür ist der bürokratische Aufwand doch viel zu hoch.“