Brüssel. Nach 541 Tagen politischer “Kopflosigkeit“ tritt das Kabinett unter Ministerpräsident Di Rupo die Arbeit an. Der neue Regierungschef gilt als Exot: Er ist der erste Wallone in diesem Amt seit 40 Jahren, er gilt als smart - und er wird es schwer haben

Nach einer Rekordzeit von 541 Tagen ohne Regierung wird am heutigen Dienstag in Brüssel die neue belgische Regierung vereidigt. Das 13-köpfige Kabinett wird vom Sozialisten Elio Di Rupo geführt, der als erster frankophoner Ministerpräsidenten Belgiens seit 40 Jahren Regierungschef wird. Er führt eine Dreiparteienregierung aus Sozialisten, Christdemokraten und Liberalen. Der Regierungsbildung war ein eineinhalbjähriger Streit zwischen Flämisch sprechenden Belgiern und Französisch sprechenden Wallonen vorausgegangen, der das Land tief gespalten hat.

Der Ministerrunde gehören je sechs französisch- und flämisch-sprachige Mitglieder an. Belgiens Außenminister Steven Vanackere soll Finanzminister werden. Der bisherige Chefdiplomat werde Didier Reynders auf diesem Posten nachfolgen.

Der 47-jährige Vanackere kommt aus Flandern und gehört der Christ-Demokratischen Partei an. Reynders (53) verantwortete seit 1999 die Finanzgeschicke des Landes. Belgien war wegen der unsicheren politischen Lage zuletzt ins Visier der Finanzmärkte geraten.

Der neue Regierungschef - ein Exot

Der neue Ministerpräsident Elio Di Rupo wiederum ist für belgische Verhältnisse ein Exot. Der bisherige Regierungschef heißt Yves Leterme und ist der Inbegriff von Graumäusigkeit. Elio Di Rupo ist das Gegenteil: schwarze Haare, rote Fliege, gebräunter Teint, schlank, Schauspieler-Gebiss, grinst gern. Im Kreis der Staats- und Regierungschefs der EU, in den er diese Woche aufgenommen wird, gehört er zu den schnittigeren Figuren. Belgien, heißt es, ist das nördlichste Mittelmeer-Land. Wenn das stimmt, bekommt es einen Premier, der passt.

Erscheinung und Name trügen nicht: Die Familie Di Rupo stammt aus den Abruzzen. Seine sechs älteren Geschwister sind da geboren. Der Vater war Landarbeiter und flickte Schuhe. Elio kam 1951 auf die Welt, als es die Familie auf der Flucht vor dem Nachkriegselend nach Belgien, ins Städtchen Morlanwelz im Hennegau, verschlagen hatte. Der Vater fand Arbeit im Kohle-Pütt. Er kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als Elio ein Jahr alt war.

Die Mutter, die Zeit ihres Lebens Analphabetin blieb, musste mehrere Kinder ins Waisenhaus geben. Den Jüngsten behielt sie bei sich. Nach zweimaligem Sitzenbleiben und anschließendem Weckruf durch seinen Lehrer entwickelte sich Elio noch zum erstklassigen Studenten. Er wurde Naturwissenschaftler und promovierte an der Uni Mons zum Doktor der Chemie. Die Provinzhauptstadt Mons, 2015 europäische Kulturhauptstadt, ist Di Rupos feste Burg. Dort ist er immer noch Bürgermeister. Dort begann er seine politische Laufbahn bei den Jungsozialisten des Parti Socialiste (PS).

Die Flamen bleiben misstrauisch

Die PS ist nicht nur traditionell die dominierende politische Formation im frankophonen Süden. Sie war - und ist punktuell immer noch – ein filziges Gewebe aus Klüngel, Postenschieberei und Bereicherung. Der ehrgeizige Nachwuchssstar tat sich schwer mit den Allmächtigen dieses Paten-Systems. Seinen Aufstieg – 1999 wurde er schließlich Parteichef – schaffte er nicht mit dem Apparat, sondern gegen ihn.

Einen historischen Augenblick lang, im November 1996, schien Di Rupos Laufbahn ein bitteres vorzeitiges Ende zu nehmen: Ein minderjähriger Homosexueller behauptete, der Politiker habe mit ihm sexuelle Beziehungen unterhalten. Im Gefolge des Skandals um den Kinderschänder Dutroux ein massiver Vorwurf, der das ganze Land aufschreckte. Aber haltlos, wie sich rasch erwies. Was blieb, ist die wenig aufregende Erkenntnis: Di Rupo ist schwul. “Na und?”, sagt er dazu. So sehen es auch die meisten seiner Landsleute.

Di Rupo ist der erste Wallone an der Regierungsspitze sein 1974. Das ist sein größtes Handicap - die Hälfte des Landes liegt schließlich weniger am Mittelmeer als an der Nordsee. Der neue Premier ist ohne Zweifel, was er schon zweimal war: der perfekte Regierungschef der frankophonen Wallonen. Doch die Flamen, immerhin 60 Prozent der Belgier, sehen den neuen Premier mit Argwohn. Sein Niederländisch hört sich an wie ein Traktor auf Kopfsteinpflaster. “Wenn der Regierungschef mit der Sprache der Mehrheit Mühe hat, dann ist das ein Problem.” sagt Leterme, selbst zweisprachig. Di Rupo hat Besserung gelobt. (mit Material von rtr)