Auch nach über 100 Tagen hat das Nachbarland noch keine Regierung. Mit jedem Tag werden Kompromisse zwischen Flamen und Wallonen schwieriger. Und die Presse diskutiert Teilungspläne
Brüssel. Die längste Regierungsbildung in der belgischen Nachkriegsgeschichte dauerte exakt 148 Tage. Das war im Jahr 1987. "Diesmal sieht es so aus, als würde dieser Rekord gebrochen", urteilt Carl Devos, Politikwissenschaftler an der Universität Gent. 109 Tage sind schon seit der Parlamentswahl im Juni vergangen und ein Ende der komplizierten Regierungsbildung ist nicht in Sicht.
Die Zahlen allein sind kein Malheur. Auch in den Niederlanden haben sich die Menschen daran gewöhnt, dass durchaus zwei, drei Monate vergehen können, bevor ein neuer Regierungschef vereidigt wird. Allerdings weist Devos auf einen fundamentalen Unterschied hin: "Während in Holland niemand auf die Idee kommen würde, das Ganze infrage zu stellen, diskutieren wir in Belgien lebhaft über die Spaltung des Landes."
Die frankophone Zeitung "Le Soir" brachte es kürzlich auf den Punkt: "Die eigentliche Frage lautet, ob Flamen und Wallonen überhaupt noch unter einem Dach leben wollen." Worauf das flämische Blatt "Het Laatste Nieuws" mitteilte, dass bereits die Hälfte der Flamen die Spaltung Belgiens herbeisehne.
Belgien tot - und was passiert dann mit Brüssel? "Le Soir" widmete diesem Problem sechs Seiten und entwarf fünf Denkmodelle. Danach würde Brüssel, gegenwärtig sowohl Hauptstadt Belgiens als auch Flanderns, mal wallonische Kapitale, mal "Europäischer Distrikt" und sogar ein unabhängiger Staat.
"Jeder weitere Tag, an dem wir keine Lösung finden, verschlimmert die Krise immer mehr", sagt Devos. Und je virulenter die Spaltungsszenarien, desto mehr radikalisiere sich die öffentliche Meinung auf beiden Seiten der Sprachengrenze. Trotz alledem ist der Politologe überzeugt, dass das 175 Jahre alte Königreich nicht zerfallen wird. Viele Brüsseler hoffen dasselbe. Es ist kein Zufall, dass in diesen Tagen immer mehr Hauptstädter ein Bekenntnis zur Nation ablegen, indem sie die schwarz-gelb-rote Nationaltrikolore aus den Fenstern hängen. Ähnliche Anwandlungen hatten am vergangenen Samstag die Redakteure von "La Dernière Heure", als sie den Text der "Brabançonne", der belgischen Nationalhymne, abdruckten.
Weitgehend einig sind sich die Beobachter darin, dass die Spaltungs-Debatte nicht nur dem Image des Landes, sondern auch dem der Politiker abträglich ist. Entsetzt fragen sich die Kommentatoren, wo er geblieben ist, der berühmte "Compromis à la Belge". Momentan wohl auf der Strecke. Devos: "Das ist ja das wahre Problem: Flamen und Wallonen misstrauen sich gegenseitig, deshalb ist niemand bereit zum Kompromiss."
Seit 109 Tagen streiten sie sich in erster Linie über die Staatsreform. Die Flamen wollen sie unbedingt, um den Einfluss der Regionen gegenüber dem Bundesstaat zu stärken. Die Wallonen hingegen sehen in der größeren Unabhängigkeit der Landesteile eine böse Falle der reichen Flamen, die nicht mehr für den ärmeren Süden aufkommen wollen. Dass 90 Prozent der Wallonen den Flamen Yves Leterme als künftigen Premierminister ablehnen, unterstreicht die feindselige Stimmung im Königreich. Kein Wunder, dass sich der wallonische Liberale Didier Reynders große Hoffnungen macht, nach über drei Jahrzehnten der erste frankophone Premier zu werden. Zwar geht Carl Devos von einer christdemokratisch-liberalen Koalition aus, aber nur wenn Yves Leterme das orange-blaue Bündnis führt. "Ich sehe keine Alternative."