Stuttgart. . Das Volk hat entschieden. „Stuttgart 21“ wird weiter gebaut. Doch noch sind viele Fragen offen. Die grün-rote Koalition ist sich einig, keinen Cent mehr als die vereinbarten 900 Millionen Euro beizusteuern. Und ob es friedlich bleibt, wenn die nächsten Bagger anrücken, ist fraglich.
Der Publikumsmagnet an diesem sonnig-kalten Sonntag war ein hölzerner Import aus Polen. Unter dem Gewölbe des Stuttgarter Hauptbahnhofs stellten die Freunde aus Zakopane ihre Krippe mit den lebensgroßen Figuren auf. Der Generalkonsul schickte ein Grußwort. Ein Bärtiger sang „Herbei, oh ihr Gläubigen“ auf Lateinisch. Nebenan gab es Früchtekuchen und Glühwein und Tiroler Hirschwurz.
Es herrschte Adventsfrieden, und in den Mauern des wuchtigen Bonatz-Baus spielte dessen künftiges Schicksal keine Rolle. Draußen aber, allein in Stuttgart in 349 Wahllokalen mit ihren 2100 Helfern, durften 7,6 Millionen Schwaben und Baden darüber entscheiden, ob der Bahnhof künftig unterirdisch angelegt werden soll und die Bahn die Schnellstrecke nach Ulm bauen kann.
20 Prozent setzen in Testabstimmung das Kreuz falsch
Allen Bildern vom „Volksaufstand“ am Schlossplatz zum Trotz, die das Fernsehen im Herbst 2010 in die Wohnzimmer brachte: Es kommt zum Bahnhofsneubau. Die Entscheidung wurde zu einer klaren Sache – auch, wenn die Frage überaus kompliziert war, die die ein Jahr lang geführte Debatte in Stuttgart, Baden-Württemberg und der ganzen Republik im Stimmlokal zusammenfasste.
„Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ‚Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21’ zu?“ stand da auf dem Zettel. Wer den neuen Bahnhof nicht wollte, musste hier sein Ja ankreuzen. Wer dagegen das 15 lange Jahre geplante Projekt unterstützte, das Nein. In einer Testabstimmung hatten 20 Prozent der Probanden das Kreuz prompt falsch gesetzt.
Besonders in den badischen Teilen des Landes vom Schwarzwald bis nach Karlsruhe sind die Wahlberechtigten deshalb in Scharen zu Hause geblieben – oder auch, weil sie das Geld für den Stuttgarter Bahnhof lieber für die eigene Rheintalstrecke Karlsruhe-Basel ausgegeben sehen wollen.
„Es ist ein Sieg für die Demokratie“
Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann, vor einem dreiviertel Jahr noch triumphaler Wahlsieger in der Landtagswahl, gab sich mit dem Endergebnis auf dem Tisch als etwas gespaltene Persönlichkeit. „Als Demokrat“, sagte er, freue er sich. „Das Volk konnte in einer Sachfrage entscheiden. Es ist ein Sieg für die Demokratie“. Aus dem Konflikt werde die ganze Republik profitieren, denn Großprojekte könne man künftig nicht mehr einfach verordnen. Als grüner Bahnhofsgegner freilich? Da schluckt der Regierungschef ein bisschen: „Ich habe schließlich das Projekt über 15 Jahre kritisch begleitet“.
Vorsorglich hat die Stuttgarter Polizei unmittelbar nach Urnenschluss das Gelände des Landtags großräumig abgeriegelt. Denn noch stehen die Zelte der Gegner am Schlosspark. Noch ist auch ihr Kampfgeist nicht ganz erloschen, wenn auch die ersten kurz nach 21 Uhr die Sachen packten: Erst wenn das Projekt vom Tisch sei, werde auch der Widerstand verschwunden sein, meinte noch am Abend der Sprecher der „Parkschützer“ Matthias von Herrmann.
Weitere Proteste sind nicht augeschlossen
Die Frage ist also: Was passiert, wenn Anfang 2012 die Bagger anrücken, weitere Bäume ausreißen, den Südflügel des Bonatz-Bahnhofs in Trümmer schlagen, wenn also der Bau so richtig beginnt? Boris Palmer, Tübingens grüner Oberbürgermeister und harter „S 21“-Gegner, der sich dem Volks-Votum beugen will, möchte deshalb vor einem Triumphgeheul der Stuttgarter CDU warnen, das am Abend lautstark im Rathauskeller zu hören war: „Es besteht die reale Gefahr, dass es nicht friedlich bleibt“.
Auch politisch ist der Bahnhofsbau von Stuttgart noch nicht ganz ausgestanden. Stoßen die Kosten durch einen von der Bahn selbst festgesetzten „Deckel“ von 4,5 Milliarden Euro, muss sie auch über den Anteil des Landes neu verhandeln. Das sieht der Vertrag mit der alten schwarz-gelben Regierung vor. Die grün-rote Koalition im baden-württembergischen Landtag ist sich diesmal aber einig, keinen Cent mehr draufzuzahlen als die rund 900 Millionen, die das Land jetzt dazutut. Es kann noch einmal spannend werden.