Essen. . Volksabstimmung über Stuttgart 21. Am Wochenende entscheidet sich die Zukunft des umstrittenen Verkehrsprojekts. Die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg ist in der Frage zerstritten, die Gegner machen Mobil und die Bahn erhöht den Druck. Wie entscheiden sich die Bürger?
Gestern Morgen wurde es hektisch in Stuttgarts Hauptbahnhof. Wieder mal. Ein S-Bahn-Zug war in der Röhre liegen geblieben. Technischer Defekt. Nichts fuhr mehr. Linien wurden umgeleitet. Die Schwaben kamen zu spät zur Arbeit. Sie lernten erneut: Funktionierende Züge und moderne Bahnanlagen haben ihren Wert.
Darin sind sie sich einig. Völlig über Kreuz aber liegt der Südwesten in der Frage der Zukunft dieses Hauptbahnhofs. „S21“ teilt Gegner und Befürworter des Großprojekts, das die Bahn AG hier für 4,7 Milliarden Euro realisieren will: Eine Tiefstation für den Fernverkehr soll den heutigen Kopfbahnhof ersetzen, eine daran anschließende Schnellfahrstrecke über die Filder und den Flughafen bis nach Ulm führen. Oben entstehen ein neuer Stadtteil und ein Park. Am Wochenende entscheidet Baden-Württemberg in einer Volksabstimmung, ob die Bagger rollen dürfen.
Das Bahnhofs-Drama
Es ist das Ende einer quälenden Debatte. 2010 zog es erstmals Demonstranten beider Seiten auf die Straße – so massiv, wie es bisher es nur der Bau von Kernreaktoren provozierte. Bürgerliche machen seither gegen die „Geldverschwendung“ mobil, Naturschützer verteidigen den Baumbestand, Lokalpatrioten sehen die Mineralquellen unter der Stadt gefährdet. Es gab Wasserwerfer-Einsätze, Schwerverletzte am Schlossplatz und – „zur Befriedung“ – eine spektakuläre wie ergebnislose Schlichtung durch den CDU-Altpolitiker Heiner Geißler. Die evangelische Kirche musste gerade Pfarrer Johannes Bräuchle, einen heftigen „S21“-Befürworter, vom Amt suspendieren. Er hat Gegnern „Terror wie in der SA-Zeit“ vorgehalten.
Seit einem Jahr verfolgt ganz Deutschland dieses Stuttgarter Bahnhofs-Drama. Der Papst fragte schon besorgt nach. Die schwarz-gelbe Landesregierung von Baden-Württemberg ist bei der März-Wahl wohl auch an diesem Streit gescheitert und wurde durch die erste grün-geführte Koalition der Republik ersetzt.
Das Kreuz mit dem Ja
Das letzte Wort haben am Sonntag 7,6 Millionen Schwaben und Badener. Die Abstimmung ist ein Ereignis vom Rang einer Landtagswahl. Wer Ja ankreuzt, ist gegen den neuen Bahnhof, denn Ja heißt, dass das Land sich aus der Mitfinanzierung des Projekts zurückzieht. Umgekehrt: Mit Nein stimmen die, die die „S21“-Pläne umgesetzt sehen wollen. Der Neubau kippt allerdings erst, wenn ein Drittel aller Wahlberechtigten im ganzen Land für den Finanzierungsausstieg stimmt.
Eine komplizierte, nicht billige Sache, die die sparsamen Südwestdeutschen 8,2 Millionen Euro kostet, die aber auch hübsche Blüten treibt. Das neue Landeskabinett von Ministerpräsident Winfried Kretschmann, selbst in Gegner (Grüne) und Befürworter (SPD) des Milliardenprojekts gespalten, wirbt für den Urnengang mit beiden Positionen. In TV-Spots sichern sich der Regierungschef und sein sozialdemokratischer Vize Nils Schmid gegenseitig zu, dass man das Ländle ganz toll findet, deshalb aber auch mal unterschiedlicher Meinung sein darf. Die offizielle Abstimmungs-Broschüre listet je zehn Argumente auf – Pro und Kontra. So viel bewusst zur Schau getragene Differenz in einer Regierung hat es in der Nachkriegsgeschichte bundesweit noch nicht gegeben.
Die Drohung der Bahn
Doch spielerisch ist diese Volksabstimmung bestimmt nicht. Zwar hat der Ministerpräsident offen erklärt, seine Regierung werde sich dem Bürgervotum beugen. Aber der Koalitionsfrieden steht zumindest klimatisch auf der Kippe. Hardliner wie der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann und SPD-Fraktionschef Schmiedel, den die Bahnhofsgegner für einen „Betonkopf“ halten, stehen sich hartleibig gegenüber.
Zudem erhöht die Bahn massiv den Druck. Bahnchef Grube, auch ein Schwabe, legt vier Tage vor dem Tag X Feuer an die Lunte. Bei Ablehnung des seit mehr als zehn Jahren geplanten Tiefbahnhofs, erklärte er gestern, werde er nicht nur deutlich mehr als die bisher genannten 1,5 Milliarden Euro Schadenersatz vom Land verlangen. Es werde auf Jahrzehnte hinaus auch kein Geld mehr für Bahnprojekte im Südwesten geben.
Die Aussichten
„Besser ein Ende mit Kosten als Kosten ohne Ende“ halten die Demonstranten dagegen. Vergeblich, geht es nach den letzten Meinungsumfragen im Ländle. 55 Prozent aller Baden-Württemberger und sogar 65 Prozent aller Stuttgarter sind demnach für den Bahnhofsneubau. Bahnchef Grube muss sich also kaum Sorgen machen um sein Projekt – solange die Fans des neuen Bahnhofs nicht Ja und Nein verwechseln.