Münster/Köln. . Größer war die Not beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) noch nie: Der LWL, der u.a. kranken und behinderten Menschen hilft und 13 000 Mitarbeiter hat, steuert auf den höchsten Schuldenberg seiner Geschichte zu.
Größer war die Not beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) noch nie: Der LWL, der u.a. kranken und behinderten Menschen hilft und 13 000 Mitarbeiter hat, steuert auf den höchsten Schuldenberg seiner Geschichte zu: 700 Millionen Euro. Kaum besser ist die Lage bei seinem rheinischen Pendant, dem LVR.
Beide Verbände fordern den Bund auf, sich an den explodierenden Kosten zu beteiligen. „Wir laufen sonst in eine Verschuldung, die nicht mehr beherrschbar sein wird“, sagte LWL-Direktor Wolfgang Kirsch dieser Zeitung. Kirsch wird in Kürze die hoch verschuldeten westfälischen Kommunen bitten, mehr Geld an den LWL zu überweisen.Weil die Lebenserwartung der Behinderten steigt, weil mehr behinderte Kinder geboren werden und immer mehr Bürger mit Depressionen und Burnout aus dem Beruf ausscheiden müssen, steigen die Sozial-Kosten der Verbände an.
Eigentlich müsste 2012 ein goldenes Jahr für die Landschaftsverbände werden. Die Einnahmen dürften nämlich sprudeln. 110 Millionen Euro mehr als in diesem Jahr werden die Städte und Kreise in Westfalen-Lippe dem LWL voraussichtlich überweisen können. Sie werden mehr Steuern einnehmen, also bekommt der Verband, der für diese Städte soziale Aufgaben stemmt, mehr Geld.
Wenn da nicht diese Ausgaben wären. Ausgaben in abenteuerlicher Höhe. „Wir erwarten 2012 das größte Defizit innerhalb eines Haushaltsjahres“, sagt LWL-Direktor Wolfgang Kirsch. Das liege in erster Linie daran, dass für Soziales und besonders für die Behindertenhilfe immer mehr Geld ausgegeben werden müsse. „Die Zahl der Menschen, um die wir uns kümmern, nimmt jedes Jahr zu“, so Kirsch.
Dahinter steckt eine erfreuliche Entwicklung: Behinderte leben heute fast so lange wie Nicht-Behinderte, der medizinische Fortschritt macht’s möglich. Den Ärzten gelingt auch so manches „Wunder“ in den Geburtsstationen: Viele Babys, die sehr früh oder mit schweren Behinderungen zur Welt kommen, überleben. Außerdem fordert das moderne Arbeitsleben so manches Opfer: Immer mehr Menschen erkranken wegen einer dauerhaften Belastung psychisch so schwer, dass sie spezieller Betreuung bedürfen. „In den Werkstätten für Menschen mit Behinderung werden in Westfalen-Lippe pro Jahr 500 Menschen mit seelischen Behinderungen aufgenommen, die vom ersten Arbeitsmarkt kommen. Das sind 20 Prozent aller Aufnahmen“, erklärt LWL-Sprecher Frank Tafertshofer.
Die Kosten explodieren also. Und zwar so sehr, dass mit normalen Sparprogrammen kaum noch etwas auszurichten ist. Für das laufende Jahr hatte der LWL ein Sparpaket von 40 Millionen Euro geschnürt. Aber allein für die steigenden Sozialausgaben muss der Verband jedes Jahr 60 Millionen Euro mehr ausgeben. Beim Landschaftsverband Rheinland sind es sogar schwindelerregende 100 Millionen Euro Zuwachs. Im Jahr.
Ein Lebens-Risiko
„Der gesamte Kulturbereich des LWL kostet jährlich 70 Millionen Euro. Wie haben 19 Museen, zahlreiche Fachdienste und vieles mehr. Selbst wenn wir uns komplett davon verabschieden würden, würden wir lediglich den Kostenanstieg in der Sozialhilfe um ein Jahr ausgleichen“, rechnet Wolfgang Kirsch. Um einen Teil dieses Riesenloches zu stopfen, wird der LWL den Städten und Kreisen mehr Geld abverlangen wollen. Der sogenannte „Hebesatz“ soll von 15,7 auf 16,5 Prozent steigen. Der rheinische Landschaftsverband verzichtet „aus Rücksicht auf die Kommunen“ auf die Erhöhung.
Beide Verbände sagen: Nur der Bund kann den Schulden-Crash verhindern. „Der Bundesgesetzgeber muss hier Verantwortung übernehmen und sich an den Sozialkosten beteiligen“, sagte LVR-Direktorin Ulrike Lubek dieser Zeitung. Wolfgang Kirsch hat Ideen, wie diese Bundes-Hilfe aussehen könnte: „Wir sind der Auffassung, dass das Risiko, wesentlich behindert zu werden, ein allgemeines Lebensrisiko ist. Vergleichbar mit der Gefahr, pflegebedürftig zu werden. Dieses Risiko müsste über ein Bundesteilhabegesetz abgesichert werden. Das heißt: Wir möchten, dass der wesentlich Behinderte einen Rechtsanspruch bekommt auf ein Teilhabegeld, mit dem er sich selbst Unterstützung einkaufen kann. Bei der Pflege gibt es das Pflegegeld.“ Auch der Deutsche Landkreistag fordert vehement ein Bundesteilhabegeld für Behinderte.
Der Deutsche Städtetag sieht das ähnlich. „Dass der Bund zugesagt hat, den Kommunen schrittweise die Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung abzunehmen, war ein guter und richtiger Schritt. Aber angesichts der dramatischen Finanzlage der Kommunen gerade hier in Nordrhein-Westfalen ist klar, dass weitere Schritte von Land und Bund folgen müssen“, sagt ein Städtetag-Sprecher.Wie alle großen Blöcke der Sozialausgaben sei die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen auf weiteres dynamisches Wachstum programmiert. „Ein vom Bund finanziertes Teilhabegeld wäre grundsätzlich sinnvoll , denn dadurch würde die Finanzierung der Eingliederungshilfe nicht allein kommunal, sondern richtigerweise gesamtgesellschaftlich geleistet. Dieses Ziel sollte daher weiter auf der Agenda bleiben.“
Vom Verkauf seines Tafelsilbers will der Landschaftsverband Westfalen-Lippe indes nichts wissen. Viele Immobilien seien schon verkauft worden. Der Verzicht auf die Anteile an RWE und der Provinzial-Versicherung wäre „unwirtschaftlich“.