Essen. . Der mutmaßliche Massenmörder Anders Breivik führte einen „heiligen Krieg“ gegen eine freie Welt, gegen Demokratie, Gleichberechtigung und den Islam. Gerade dies macht ihn zu einem merkwürdigen Verwandten des islamistischen Terrors.
Man könnte Ernst Uhrlau beinahe seherische Fähigkeiten zubilligen. Es ist noch nicht lange her, da warnte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes vor Terroranschlägen fanatischer Einzelgänger. „Wir müssen besonders auf Einzeltäter achten, die nicht aus fest strukturierten Zusammenhängen kommen“, sagte Uhrlau. Das war Anfang Mai, wenige Tage zuvor hatten US-Spezialeinheiten den lang gesuchten El Kaida-Kopf Osama bin Laden getötet.
Es sollten nur etwa drei Monate vergehen, da erfüllte sich die düstere Vision des BND-Chefs. Allerdings hatte er seine Warnung mit Blick auf einen islamistischen Terrorangriff ausgesprochen. An einen Mann wie Anders Behring Breivik, Christ, mutmaßlicher Terrorist und Massenmörder, hatte Uhrlau dabei nicht gedacht. Niemand hatte Breivik auf dem Radarschirm.
Tausende solcher Pamphlete
Analysten und Interpreten durchsuchen nun das 1500 Seiten starke Pamphlet des geständigen Täters nach Spuren, die Hinweise auf seine Motivation geben könnten. Die Hoffnung dabei ist, eine Erklärung zu finden, Anhaltspunkte für die Gründe der Radikalisierung des Täters und ideologische Leitlinien zu identifiziere, um in Zukunft solche Männer früher zu erkennen und womöglich unschädlich zu machen.
Doch es gibt wohl Tausende solcher Pamphlete, und deren Autoren „werden nicht zu Mördern“, gibt der Sozialpsychologe Harald Welzer zu bedenken, Autor des Buches: „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“. Eine Erklärung für die monströse Tat in Breiviks Manifest zu suchen, entspringe dem verständlichen, aber vergeblichen Versuch, die Tat fassbar zu machen und sie so zu bannen, meint Welzer.
„Krieg gegen unsere Werte
Möglich, dass die wild zusammengeklaubten Thesen nur zeigen sollen, wie der Täter gesehen werden will. Das Konvolut soll seiner irrsinnigen Tat eine rationale Basis geben. Die schlimme Grundmelodie lautet: Der Islam will Europa unterjochen, eine christlich-reaktionäre Elite muss dagegen kämpfen. Doch nicht direkt gegen Vertreter der verhassten Religion richtet sich Breiviks Kampf, sondern gegen jene, die in seinen Augen den Vormarsch des Islam nach Europa befördern und eine multikulturelle Welt begrüßen. Das sind für ihn die Sozialdemokraten.
Sein Anwalt Geir Lippestadt sagt: „Anders Breivik führt Krieg gegen unsere Werte.“ Gegen Demokratie, gegen Gleichberechtigung, Feminismus, Meinungsfreiheit, Aufklärung, kurz: gegen die Freiheit. Das verbindet ihn auf seltsame Weise mit dem islamistischen Terror, mit den Tätern des 11. September 2001. „Ein Atta des Abendlandes“, nennt in daher der „Spiegel“.
Breivik sieht sich als Märtyrer
Wie Mohammed Atta sieht Breivik sich als Märtyrer, der mit Gewalt das Chaos und den Wertezerfall der modernen Welt beenden und eine höhere, eine religiös fundierte Ordnung herstellen muss. Auch seine Taktik, die stille Vorbereitung, die Nutzung des Internets, die konsequente Ausführung der Tat mag er islamistischen Terroristen abgeschaut haben.
Doch damit enden die Parallelen. Einen rechtsextremen Terroristen, der sich auf die „Kreuzritter“ beruft und im Namen eines christlichen Abendlandes tötet, das ist bislang einmalig. Zudem benutzte Breivik keine anonym tötende Bombe, sondern er mordete einzeln, von Angesicht zu Angesicht. Welzer sagt: „Die Psychologie eines Atta ist vermutlich eine völlig andere als die Breiviks. Mir ist bislang kein vergleichbarer Fall bekannt. Es gibt keine Vorbilder.“ Zudem: Atta war kein Einzelgänger, er war Teil einer gleichgesinnten Gruppe.
Wenn das Manifest keine eindeutigen Anhaltspunkte liefert, wenn die Psychologie Breiviks so einzigartig ist, bleibt die Frage: Wie schützen wir uns? „Gar nicht“, sagt Welzer. „Gegen eine wahnhafte Wahrnehmung von Wirklichkeit wird man in einer freiheitlichen Gesellschaft nichts tun können. Punkt, Ende.“