Essen. Deutschland wird immer älter, die Jungen werden zur Minderheit. Nun will einer der mächtigsten Lobbyisten, der ADAC, eine Interessensvertretung für Menschen von 50 Plus anschieben. Die großen deutschen Sozialverbände bekommen damit Konkurrenz.

Der ADAC, mit 17 Millionen Mitgliedern schon Europas einflussreichster Automobilclub, baut eine Lobby-Organisation für Menschen über 50 auf. Vorbild ist der größte US-Seniorenverband AARP, der 40 Millionen Beitragszahler hat und der die Sozialpolitik der Regierungen in Washington beeinflusst.

Der Verein „Generationen Netzwerk für Deutschland“ (GND) soll „Deutschlands größtes Netzwerk zur Wahrung und Förderung der Interessen der Menschen 50 Plus werden“ – aber nicht nur Lobby sein, sondern auch Service bieten. Im Mai will sich GND, das fünf Jahre vom ADAC finanziert werden soll, bundesweit vorstellen. Ziel ist, bis Ende 2012 schon 150 000 Mitglieder zu haben, sagte Vorstand Claudia Rutt der WAZ. Bis 2015 wolle man flächendeckend mit Freiwilligenstützpunkten vertreten sein.

Konkurrenz für den VdK

Damit konkurriert die ADAC-Tochter mit dem 1,5 Millionen Mitglieder starken VdK, der von der Sozialpolitikerin Ulrike Mascher (SPD) geführt wird, und dem Sozialverband Deutschland (520 000 Mitglieder).

Rutt sagt, ihre Organisation werde „Bürgerbewegung“ und Sprachrohr sein – auch für die, deren Kinder erwachsen sind und die neben dem Job oft die eigenen Eltern pflegen müssten. So will die GND will die Defizite der Pflegeversicherung offensiv ansprechen: Die sei allenfalls „Teilkasko“.

2035 sind die Hälfte der Deutschen 50 plus

Politikern dämmert, was demografischer Wandel heißt. Kurt Beck, Ministerpräsident in Mainz, erzählt am Bürgerstammtisch gerne aus seinem Alltag: 1976 habe sein Vorgänger Helmut Kohl noch 36 Landsleuten zum 100. Geburtstag Glück gewünscht. Beck: „Ich habe im letzten Jahr 683 gratuliert“.

Ältere, Alte und ganz Alte werden immer mehr – und Mehrheit macht mächtig. 2035, in 25 Jahren, wird die Hälfte der Deutschen über 50, ein Drittel über 60 Jahre alt sein. Die politischen Parteien spüren den Trend vorab: 250 000 der 500 000 SPD-Mitglieder sind in der Arbeitsgemeinschaft 60plus. Jeder zweite CDU-Wähler der letzten Bundestagswahl war über 60.

Die „graue Generation“ wird bald den Kurs bestimmen. Wer ist ihre Stimme?

Ältere haben sehr unterschiedliche Interessen

Tatsächlich bedeuten ihre Themen – Pflege, Rente, Krankenkasse – eine Kraftanstrengung für die ganze Republik. Ältere sind nämlich eine kritische Masse. Es ist eine Herausforderung, ihre Vorstellungen auf einen Nenner zu bringen. So ist die Führung der CDU-Seniorenunion nicht einmal einig in der Frage, ob Spielplätze in Wohngebieten liegen dürfen. „Unzumutbar“ findet Vize Leonard Kuckart Kinderlärm, sein Vorsitzender Otto Wulff hält dagegen: „Spielplätze sind Signal für eine kinderfreundliche Gesellschaft“. Und nicht weniger zanken sich Alt-Sozialdemokraten um die „Rente mit 67“. Franz Müntefering, einer der ihren, erfand sie. Die Basis lehnt sie strikt ab. Ältere als geschlossene Gesellschaft? Wohl kaum.

Es gehört also Mut dazu, was gerade in der Koblenzer Straße 112 in Bonn passiert. In der 1. Etage des hellen Bürobaus hat sich „Generationen Netzwerk für Deutschland“ eingemietet. 21 Mitarbeiter betreiben hier Aufbauarbeit. GND, so das Kürzel der geplanten Massenorganisation, hat einen finanzkräftigen Sponsor: den ADAC. Wer Autolenker erfolgreich vertritt, muss auch gute Lobbyarbeit für Senioren machen können, sagen die Macher aus München.

Drohendes Desaster Pflegeversicherung

Vor drei Jahren haben sie intern das Projekt „Christopherus“ angeschoben. Jetzt steht „Deutschlands größtes Netzwerk zur Wahrung und Förderung der Interessen der Menschen 50 Plus“ am Start. Mitglied wird, wer im Jahr 48 Euro zahlt. Als Gegenleistung gibt es via Telefon, Internet oder in einem der 100 geplanten Freiwilligenbüros Hilfestellung in allen Angelegenheiten der Generation. Persönliche Finanzchecks gehören dazu. Die Erstberatung ist inklusive, wenn ein Senior einen Anwalt braucht. Ein eigenes Versicherungsangebot ist angedacht. ADAC-Kenner finden hier schnell die Pannenhilfe als Blaupause wieder.

Claudia Rutt ist die Chefin. Sie hat gerade das Alter der Zielgruppe erreicht. Die 50-jährige Kölnerin weiß aus der eigenen Familie, dass viele Alltagsprobleme mit Politik zu tun haben. Vom „drohenden Desaster“ spricht sie, wenn sie an die Pflegeversicherung denkt. Mit solcher „Teilkasko“ sei kein Blumentopf zu gewinnen. Pflege ist wohl der erste Punkt, wo aus dem Fördern der Mitglieder, wie es GND gegen Beitrag zusagt, ein Fordern an die Adresse der Politik wird. „Wir werden Sprachrohr sein“, verspricht Claudia Rutt und schiebt nach: „Wir sehen uns als Bürgerbewegung“.

Scharfe Konkurrenz

Die neue Bürgerbewegung, die wie ihr amerikanisches Vorbild AARP politisches Auftreten mit Geschäft paart, muss sich mit alteingesessener Konkurrenz messen.

Die Lobby-Vertretung älterer Bundesbürger teilen sich viele kleine und wenige große Gruppierungen. 100 davon sind im Dachververband BAGSO organisiert, der von der früheren Familienministerin und Altersforscherin Ursula Lehr geführt wird. Sehr groß, bissig und eher links: Der VdK. 1,5 Millionen Mitglieder, mit Trend nach oben, kommen in der Vereinigung der früheren SPD-Sozialexpertin Ulrike Mascher zusammen, die es schaffte, die bisher größte Rentner-Demo nach dem Krieg in München auf die Beine zu stellen. Der ehemalige „Reichsbund“, heute Sozialverband Deutschland getauft, ist dahinter mit 550 000 Mitgliedern die Nummer zwei.

Die ADAC-Tochter schreckt das nicht. Das US-Vorbild war ja auch erfolgreich. Es hat bei Bush staatliche Zuschüsse für Medikamente durchgesetzt und stützt Obama in Sachen Gesundheitsreform. Man wird bald in Berlin anklopfen.

Politik muss schnell Lösungen finden

Die Älteren in Deutschland, darunter sind alleine 20 Millionen Rentner, sind nicht generell arm. Keine Altersgruppe unternimmt so viele Reisen wie die 50- bis 70-jährigen. Jeder dritte Euro, der in Deutschland für den Konsum ausgegeben wird, stammt aus ihren Geldbeuteln. Der Anteil wird bald auf 40 Prozent steigen, glaubt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Und: Noch nie hat eine Generation so viel Geld vererbt wie die heutigen Älteren.

Dennoch sind wesentliche Finanzierungsfragen ungelöst, die mit der alternden Gesellschaft zusammenhängen. Hier ist die Politik gefordert, schnelle Lösungen zu finden.

Die Pflege. Die Ausgaben der Pflegeversicherung steigen im Zeitraum 2003 bis 2050 von 17,3 Milliarden auf 33 Milliarden Euro. Die Einnahmen sinken von 16,7 Milliarden auf 12 Milliarden Euro.

Die Rente. Zwischen 2005 und 2050 klettern die Ausgaben von 235 Milliarden Euro auf rund 585 Milliarden. Schon 2035 könnte das System nicht mehr funktionieren.

Die gesetzlichen Krankenkassen. Ihre Ausgaben wachsen von 140 Milliarden Euro (2004) auf 170 Milliarden im Jahr 2040.