Bonn.


Sie hat Helmut Kohl als Familienministerin gedient. Jetzt führt Ursula Lehr (79) die Lobby von 13 Millionen Senioren an. Ihre Botschaft: Die Gesellschaft muss sich dem demografischen Wandel anpassen.

Wenn Ursula Lehr durch ihre Heimatstadt Bonn geht, fällt ihr vieles Schöne auf – und manches Unangenehme. Breite Aufgänge ohne Geländer. Parkhäuser ohne Aufzug. Stufen ohne Markierungen, die signalisieren: Hier geht es in die ebene Fläche. Die Ignoranz der Museen: „Da hängen wunderschöne Exponate. Aber die Bildbeschreibungen sind tief unten angebracht. Man muss sich bücken. Und dann sind es noch Minitafeln. Alles nichts für Senioren”.





Die 79-jährige ist seit wenigen Wochen eine der gemessen an der Mitgliederzahl mächtigsten Lobbyistinnen Deutschlands. Durch die Krankheit ihres Vorgängers bedingt wählte sie die Hauptversammlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenverbände (BAGSO) in den Chefsessel. 13 Millionen Bundesbürger sind in den Verbänden der BAGSO vertreten. Mehr als im DGB. Fast soviel wie im ADAC.

Die Mahnung an die Adresse der Gesellschaft, sich bitteschön auf die deutlich wachsende Zahl älterer Menschen einzustellen und sich deren Erfordernissen anzupassen, ist zentrale Botschaft an der Schwelle zum neuen Jahrzehnt. Im Handumdrehen belegt Lehr das mit schlechten Beispielen aus dem Alltag: Das verschweißte Lebensmittel, das Ältere kaum öffnen können. Unlesbare Beipackzettel der Arzneien. Die dunkelgrüne Schrift auf hellgrünem Grund der Steuererklärung oder auch das Design des neuen ZDF-Studios, das auf Kontraste verzichtet. Wo doch Ältere Kontraste dringend brauchen, um richtig zu sehen.

Der Dachverband hat mit der Wahl der neuen Chefin eine Riesenchance. Die gebürtige Frankfurterin ist nicht nur den Kampf an der Öffentlichkeits-Front gewöhnt. Sie ist einfach ein Name. Sie besetzte Positionen in Wissenschaft und Politik: Als Professorin in Köln, Bonn, Heidelberg, als Gründerin des Zentrums für Alternsforschung, schließlich als Bundesfamilienministerin unter Helmut Kohl.

Dass sie Mut zur Klarheit hat, zeigte sie dem schwergewichtigen Kanzler 1989, als sie verlangte: „Wer die Abtreibungszahlen senken will, muss für Kindergartenplätze und Tagesbetreuung auch für die ganz Kleinen sorgen”. Die Christdemokratie jener Tage empfand das als Tabubruch. Der Kanzler schrieb Lehr einen Brief zu den „verbitterten Reaktionen” in der Partei. 20 Jahre danach fühlt sie sich bestätigt: Die Betreuung unter Dreijähriger ist Konsens.

Nun also: Der Einsatz für die andere Seite der Gesellschaft. Was ist BAGSO? Rentnerband? Die graue Kolonne, die den Staat bedrängt, die Finger weg von der Rente zu lassen? Lehrs bunte Versammlung ist zu vielschichtig, um als geschlossene Kampftruppe für einseitige Interessen zu wirken: 101 Verbände gehören ihr an, von A wie der Bildungsgemeinschaft Arbeit und Leben über den Bundesverband Gedächtnistraining bis Z wie ZWAR aus NRW.

Die Ex-Ministerin ist also zurückhaltend beim direkten Mitmischen in der Tagespolitik. Zum Beispiel: Konsens in der umstrittenen Frage der „Rente mit 67” gebe es in der BAGSO insofern, dass das Rentenalter „flexibel” zu handhaben sei, sagt sie. Würden Ärzte nicht auch länger arbeiten, weil man sie brauche? Und wer, andersherum, nach einem Berufsstart im Teenie-Alter 45 Jahre arbeite, der dürfe dann auch wirklich den Ruhestand genießen.

Für sie selbst lässt sie das nicht gelten. „Wer rastet, der rostet”. Sie wird bald ihre Nach-Nachfolgerin Kristina Köhler, 32, im Familienministerium sehen. Sie vertritt Interessen, hält Vorträge, trifft sich - Entspannung ist das fast - mit alten Parlamentskollegen in Berlin. Im neuen Flughafen-Terminal von Köln/Bonn ärgert sie sich dann. Der hat einen Glasboden. „Einen Glasboden. Verstehen Sie?” Auf Glasböden werden Ältere unsicher, gleiten aus. Glasböden passen nicht in die Zeit.