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Warum stehen Japaner noch gesittet in der Schlange, wenn um sie herum nur Chaos herrscht? Die scheinbare Ruhe im Angesicht der Katastrophe täuscht: In der japanischen Kultur kann auch ein Flüstern ein Aufschrei sein.

Die junge Mutter hat vor wenigen Stunden eine der größten Katastrophen überlebt, die ihr Land je heimgesucht hat. „Als ich nach Hause kam, sagte meine Nachbarin, ein Tsunami kommt. Da bin ich schnell auf die große Brücke gerannt.“ Sie hält ein kleines Kind eng an sich gepresst. Ihr Mund im ansonsten ausdruckslosen Gesicht verzieht sich zu einem kleinen Lächeln.

Eine alte Frau stochert im Schutt. Sie hat alles verloren, erzählt sie. Beim Sprechen hält sie sich die Hand vor den Mund. Als wollte sie die Worte im letzten Moment doch noch zurückhalten.

Ein Mann steht mit einem Wasserkanister in einer langen Schlange vor dem einzigen Laden in seiner Stadt, der noch geöffnet ist. „Bald werden die Vorräte hier erschöpft sein, wer hilft uns dann?“ fragt er. Und schaut freundlich an uns vorbei in die Ferne.

Diese Ruhe. Dieses Lächeln. Nur selten sehen wir in den Sondersendungen aus Japan Szenen wie diese: zwei Frauen, die sich laut weinend in die Arme fallen. Kein Erdbeben, kein Tsunami, keine Atomkatastrophe scheint die Gelassenheit der Betroffenen erschüttern zu können.

„Raues Flüstern kann eine Art des Schreiens sein“

Nur zeugen ihre Mienen ja gar nicht von Gelassenheit, sind sie nur für uns ausdruckslos oder gar heiter. „Japaner leiden nicht weniger oder lieber als andere“, schreibt der Journalist Uwe Schmitt in seinem Japan-Buch „Tokyo Tango“. Als langjähriger Korrespondent hat Schmitt das Erdbeben von Kobe 1995 begleitet; wer sein Buch heute in die Hand nimmt, versteht Japan im Angesicht der aktuellen Katastrophe besser: „Stille ist nicht notwendigerweise Hingabe, raues Flüstern kann eine Art des Schreiens sein. Dass man in Japan vor der Kamera in solchen schlimmen Lagen vor Verlegenheit und Ohnmacht lächelt, weil das zur Schau gestellte Leid den Betrachter belasten könnte, bedeutet eben nicht, dass frohgemuter Fatalismus herrscht.“

Nun ist erneut das „exzessive Vertrauen in Technologie“ der Japaner tief erschüttert, nun muss das Land erneut (Selbst-)Bilder ertragen, die auch aus der Dritten Welt stammen könnten. Nach dem Beben von Kobe habe Japan viel ausländische Hilfe abgelehnt, auch das kann man bei Schmitt nachlesen. In Zeitungen kursierten damals Gerüchte, Opfer wollten „lieber sterben“, als die Schande zu erleben, von weißen Männern ohne japanischen Benimm behandelt zu werden.

Scham, Schande, das Gesicht wahren. Ist das heute wirklich noch so in Japan? Ist das Land immer noch der „Theaterstaat“, in dem die wahrhaftige Welt (honne) des Privaten hinter der ritualisierten Welt der Öffentlichkeit (tatemae) zurücktritt?

Gleichzeitigkeit von Tradition und Moderne

Tatsächlich beruht die Religion der meisten Japaner, der Shintoismus, eher auf gemeinsamen Ritualen denn auf einer einheitlichen Auslegung ihres Glaubens. Und so werden diese Rituale, Traditionen auch im 21. Jahrhundert gepflegt. Gleichzeitig bedeutet das Zusammenleben sehr vieler Menschen auf engem Raum, dass die in unseren Augen starren Regeln des Miteinanders überlebenswichtig sind.

Auch die Fluchtmöglichkeiten aus dem Alltag sind rituell: in Kostüm-Cafes, beim Karaoke, beim Fußballspiel erlebt man enthemmte Japaner. In der Literatur begegnet man träumenden: Autoren wie Haruki Murakami stillen auch unsere eigenen Sehnsüchte nach einem unerklärlichen, übernatürlichen Gegenwicht zur durchtechnisierten Welt.

Die Gleichzeitigkeit von Tradition und Moderne inspiriert längst westliche Künstler: Filmemacherinnen wie Sofia Coppola („Lost in Translation“) und Doris Dörrie („Hanami – Kirschblüten“) etwa oder Schauspielerin Franka Potente, die nach längerem Japan-Aufenthalt Kurzgeschichten schrieb: „Ich liebe die scheinbar unvereinbaren Gegensätze dort. Vergangenheit und Moderne, lautes Chaos und Stille, Offenheit und Verschlossenheit...“ Viele ihrer Stories drehen sich um die Begegnung der Kulturen, in denen Europäer stets „zu laut“ sind. Es gibt Klischees, die trotzdem wahr sind.

Zum ersten Jahrestag von Kobe, schreibt Uwe Schmitt, wollten viele Japaner keine Feierlichkeiten: „Sie wollten in Ruhe gelassen werden, nichts sehen, nichts hören, schon gar kein Mitleid.“ Ganz ähnlich sei es an den Jahrestagen von Hiroshima und Nagasaki. Denn das geteilte Leid ist den Japanern: doppeltes.

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