Alsószentmárton. .
Wo die Straßen schlechter werden, die Schlaglöcher tiefer und die Hunde schwärzer, dort geht es nach Alsószentmárton: einem kleinen Dorf an Ungarns Grenze zu Kroatien, wo ausschließlich Roma leben und ein einziger Ungar. Jozsef Lanko heißt er, ist von Beruf charismatischer Pfarrer und reißt sich zwei Beine aus für seine Leute. „Hat mein Chef Ähnliches gemacht, können Sie lesen im Evangelium“, sagt Lanko im besten Ungarndeutsch und grinst aus der Tiefe seines Karl-Marx-Bartes.
Kinder in Trauben unterwegs, viele magere Katzen, aus Fenstern dröhnt der Balkanpop: Das Dorf ist arm, aber nicht elend. Und doch ist dies eine Geschichte vom ständigen Kampf gegen die Verelendung. Denn in den frühen 90er-Jahren verloren fast alle Roma ihre – zugegeben einfachen – Arbeitsplätze, die ihnen der Sozialismus garantierte; heute arbeiten nur noch wenige regulär, leben die meisten, wenn man nur alles zusammenrührt, von der Familie und von der Sozialhilfe, dem eigenen Gärtchen oder der Kuh, Auslandsverwandten, Tagelohn und Kindergeld. „Das Verhältnis der Ungarn zu den Roma ist gut, wenn sie Saisonarbeiter brauchen“, sagt Lanko: „Aber wenn die Roma Holz brauchen, schauen sie nicht ins Katasterbuch, und das gibt dann Ärger.“
Eine große Minderheit in Armut
Nun sind Konflikte in Ungarn recht weit weg, denkt man sich so, aber 2011 wird zeigen: Das stimmt nicht! Denn in den ersten sechs Monaten ist Ungarn EU-Ratspräsident und wird das Thema Roma dann auf Europas Tagesordnung setzen: Sie sind mit acht bis zehn Millionen Menschen in der EU das größte Volk ohne eigenes Land, aber sie werden diskriminiert wie kein zweites. Was schon heute in den Balkanstaaten recht dumm ist, eine so große Minderheit in Armut und Unwissenheit zu belassen; sehr jung sind die Roma dabei auch noch, sozusagen die geborene (Teil)Antwort auf Europas Vergreisung. Wenn man sie nur integrieren . . . tja, könnte oder wollte? Da tobt ein auch in Deutschland nicht ganz fremder Glaubenskrieg, und Beispiele findet man natürlich immer und für jede Meinung: vom Roma-Staatssekretär bis zum Roma-Tunichtgut.
Vor Lankos einfacher und abblätternder Dorfkirche steht jedenfalls ein Denkmal, es erinnert an die Toten des Krieges 14/18, und die eingravierte Liste ihrer Namen reicht von Antalovics, Istvan bis zu Schneider, Pal. Doch Ungarn, Kroaten und Donauschwaben sind lange fort, sie zogen der Arbeit nach, und die Roma, zuvor am Ortsrand isoliert, kauften deren Häuser. Zwei Kindergärten gibt es, doch schon die Schule ist auswärts, und Geld fehlt sowieso.
So erzählt Lanko die Geschichte jener alten, kranken Frau, der der Arzt Medikamente verschrieb; freilich konnte sie das Rezept nur auf den Stapel Rezepte legen: „Geld für den Eigenanteil an dem Medikament hatte sie nicht.“ Überlebt hat die Frau das nicht lange, und überhaupt kommt manche Familie nur durch den Winter, weil sie von der Kirche Mehl, Nudeln oder Brot erhält hier in Alsószentmartón. Auf deutsch heißt das „Untersanktmartin“ und passt an dieser Stelle außerordentlich gut.
Die Menschen sind
immer ärmer geworden
Ach, es ist ja überall dasselbe: „Fördern und Fordern“ könnte durchaus über dem Renovabis-Projekt
im Ort stehen. Hier gibt es eine Armenküche, hier gibt es aber auch, mehr in die Zukunft gewandt, Nachhilfe und Freizeitangebote. „Die Jugendlichen können kommen, wenn sie hier mit anpacken“, sagt Eva Molnar, die Leiterin: „Vielleicht kommen einige weiter und studieren, und vielleicht hilft das dann.“ Indes ist es auch so, dass viele Roma den wärmenden Zusammenhalt ihrer Familie ungern verlassen. Aber das Gegenteil ist auch wieder richtig: Außerhalb von Alsószentmárton würde man sie merken lassen, dass sie Roma sind. Und so zieht Jozsef Lanko irgendwann an diesem sonnensatten Samstag ein bitteres Fazit: „In 20 Jahren ist das Leben immer schwerer geworden für die Leute, sie sind viel ärmer geworden.“
Im Renovabis-Innenhof steht Tomas Fenywesi, der in dieser Geschichte die Rolle des 17-jährigen Hoffnungsträgers einnimmt. Er rührt in einem riesigen Kochtopf Kartoffeln und Zwiebeln, Paprika und Lorbeerblätter zusammen zu, man ahnt es schon, Kartoffelpaprika. Tomas und sein Freund Michail werden gehen, diesen Winter noch, sie beginnen auswärts eine Lehre als Koch. Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem viele Roma die achtjährige Grundschule nicht beenden. Nach der Lehre, sagt Tomas, hätte er dann am liebsten einen Arbeitsplatz hier im Ort, oder natürlich auch in Budapest oder Westungarn; und wenn dort gar nichts klappt, wird er versuchen, zu seinen Schwestern zu ziehen. Eine lebt in England. Eine lebt in Deutschland.
Schon deshalb gehen die Roma uns an.