Jerusalem. Der Kampf war vergeblich: Die jüngsten Hamas-Geiseln leben nicht mehr. Die Terroristen geben Israel die Schuld. Dort herrscht Entsetzen.

Ganz Israel war in Staatstrauer, als am Donnerstag die Leichen von vier Geiseln zurück nach Israel gebracht wurden. Am Kiosk, in den Krankenhäusern, an der Tankstelle, im Parlament: Überall sahen die Menschen dem Konvoi an Leichenwagen zu. Die Rückkehr der nach Gaza verschleppten Geiseln Oded Lifschitz, Shiri Bibas, Ariel Bibas und Kfir Bibas wurde per Livestream übertragen. Der Konvoi fuhr von der Grenze zum Gazastreifen in Richtung Norden, zum Forensischen Zentrum in Jaffa. Auf beiden Straßenseiten standen trauernde Menschen, schwenkten israelische Fahnen, weinten und beteten.

503 Tage zuvor waren Lifschitz, Shiri Bibas und die Kinder aus dem Kibbutz Nir Oz verschleppt worden. Kein Tag verging, an dem ihre noch lebenden Verwandten in Israel nicht für ihre Rückkehr kämpften. Der Kampf war vergeblich.

Tote Geiseln in Israel: Offizielle Bestätigung steht noch aus

Das Schicksal der Familie Bibas bewegte die Menschen in Israel seit Beginn des Kriegs. Kfir Bibas war nur neun Monate alt, als er verschleppt wurde, er war die jüngste aller Geiseln. Bilder der Entführung zeigen Mutter Shiri mit in Panik verzerrtem Gesicht, in den Armen die beiden Kinder, sie fleht um Gnade. Danach fehlte jede Spur von den rothaarigen Kindern und ihrer Mutter – bis auf ein Video, das vor einem Jahr veröffentlicht wurde. Darauf sieht man Shiri Bibas mit den beiden Kindern in Khan Junis, offenbar kurz nach der Entführung. Immerhin wusste man dann, dass sie lebend in Gaza angekommen waren. Doch die Zuversicht der Angehörigen, Shiri und die Kinder wiederzusehen, wurde sofort gedämpft. Die Armee erklärte, es gebe „ernste Sorge“ um das Schicksal der Bibas-Familie.

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Wann sie starben und wie, ist unklar. Die Hamas behauptet, sie wären bei einem Luftschlag der israelischen Armee ums Leben gekommen. Überprüfen lässt sich das nicht.

Die vier Leichen befinden sich nun in einem forensischen Institut nahe Tel Aviv, wo ihre Identität festgestellt werden soll. Erst danach sollte es eine offizielle Bestätigung, dass es sich bei den Leichen um die Körper von Shiri, Kfir und Ariel handelt. Das Institut versucht nun, die Todesumstände der Geiseln zu ermitteln.

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Obwohl es noch keine offizielle Bestätigung gab, preschte das Büro von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu am Mittwochabend vor und erklärte, dass es sich bei drei der vier übergebenen Leichen um den verschollenen Teil der Familie Bibas handelte.

Psychologen der Geiselfamilien: „Das hat die seelische Not nur noch vertieft“

Bei den Angehörigen sorgte das für Entsetzen. „Sechzehn Monate lang haben wir auf die Gewissheit gewartet, die uns niemand geben konnte. Und jetzt werden sie für tot erklärt, bevor sie überhaupt zurückgebracht wurden? Bevor sie identifiziert wurden?? Bevor man uns informiert hat? Es ist eine Schande“, schrieb Ofri Bibas Levi, die Schwägerin von Shiri Bibas, in einer Stellungnahme.

Netanjahus Büro reagierte darauf, indem es dem Militär die Schuld zuschob: Die Armee habe es vernachlässigt, die Familien zu informieren, das sei „ein schwerer Fehler“.

Nahostkonflikt - Übergabe von vier toten Geiseln
Hamas-Terroristen tragen den Sarg mit dem Leichnam von Kfir Bibas zur Übergabe an das Rote Kreuz in Chan Junis im südlichen Gazastreifen. © DPA Images | Jehad Alshrafi

Die Affäre ist symptomatisch für den Umgang der Regierung mit den Angehörigen der Geiseln. Immer wieder gab es widersprüchliche oder verwirrende Angaben über das Schicksal der Geiseln. „Viele Familien haben Benachrichtigungen über ihre Liebsten erhalten, ohne dass es definitive Beweise gibt“, heißt es in einem Bericht, den die betreuenden Psychologen der Geiselfamilien verfasst haben. „Das hat die seelische Not nur noch vertieft.“

Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl

Darin zeigt sich ein tieferes Problem: Israel hat zwar jede Menge Erfahrung damit, wie man die Familien gefallener Soldaten oder Angehörige von Terroropfern verständigt. Mit einer großen Anzahl an Geiseln, über deren Schicksal man nur vage Hinweise hat, wissen die Behörden nicht umzugehen. Auch ist nicht immer klar, wer dafür verantwortlich ist, die Familien zu informieren – die Armee oder zivile Beamten. In vielen Fällen fühlte sich keiner zuständig, die Angehörigen blieben im Dunkeln.

Der Vater der toten Kinder ist erst Anfang Februar freigekommen

Im Fall Bibas zeigte sich dies besonders deutlich vor vier Wochen, als es um die Freilassung der letzten weiblichen lebenden Geiseln ging. Shiri Bibas und die Deutsch-Israelin Arbel Yehud standen auf der Liste jener Geiseln, die als Teil der lebenden weiblichen Verschleppten an Israel übergeben werden sollten. An jenem Tag, als die Hamas weder Shiri Bibas noch Arbel Yehud auslieferte, protestierte Israel gegen diesen offensichtlichen Verstoß gegen den Geiseldeal – doch der Protest richtete sich nur gegen das Zurückhalten von Arbel Yehud. Was dadurch zum Ausdruck kam: Man zählte Shiri Bibas offenbar nicht mehr zu den lebenden Geiseln und sah der Hamas daher dieses Versäumnis nach. Die israelische Öffentlichkeit – und auch die Familien – konnten daraus zwar ihre Schlüsse ziehen. Es fand sich aber niemand, der dies von offizieller Stelle kommentierte.

Yarden Bibas, der Vater der Kinder und Mann von Shiri Bibas, wurde erst Anfang Februar aus der Gewalt der Hamas befreit. In seinem ersten öffentlichen Statement sagte er: „Meine Familie ist noch dort. Mein Licht ist noch dort, und solange sie dort sind, ist hier alles finster.“

Staatspräsident Itzchak Herzog tat am Donnerstag, was Regierungschef Netanjahu bislang verabsäumt hatte: Er bat um Verzeihung. „Im Namen des Staates Israel verneige ich meinen Kopf und bitte um Vergebung. Um Vergebung dafür, dass wir euch an jenem schrecklichen Tag nicht beschützen konnten. Und um Vergebung dafür, dass wir euch nicht in Sicherheit zurück nach Hause bringen konnten.“