Berlin/Novi Sad. Seit dem Einsturz eines Bahnhofsdaches protestieren in Serbien Tausende Menschen gegen Präsident Vučić. Für viele ist das Maß voll.
Bringt ein eingestürztes Bahnhofsvordach Serbiens Präsidenten Aleksandar Vučić zu Fall? Es ist der 1. November 2024, als in der nordserbischen Stadt Novi Sad das Vordach des Hauptbahnhofs abbricht und 15 Menschen erschlägt. Seitdem kommt Serbien nicht zur Ruhe: Fast täglich gehen in dem Westbalkan-Staat Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die aus ihrer Sicht korrupte Regierung zu demonstrieren. Sie fordern Aufklärung, denn der Bahnhof war nur wenige Monate vor dem Unglück im Rahmen einer von China geleiteten Modernisierung der serbischen Eisenbahninfrastruktur renoviert worden.
Seit Anfang an dabei ist Doroteja Antić. Schon seit vielen Jahren engagiert sich die Philosophiestudentin im Protest gegen die serbische Regierung. Doch mit dem, was seit Anfang November passiert, hätte sie nie gerechnet: „Früher haben sich hier nur wenige Menschen für Politik und Prozesse wie Korruption interessiert, doch nun schließen sich immer mehr der Bewegung an“, berichtet im Antić im Telefongespräch.
Schon seit über zwei Monaten hält sie mit anderen Studierenden die Universität in Novi Sad besetzt. Sie und bis zu 60 andere Studierende schlafen nun fast jeden Tag in den Räumen ihrer Fakultät. Statt Vorlesungen und Seminaren gibt es von den jungen Menschen veranstaltete Filmvorführungen und Workshops. Dabei wird alles basisdemokratisch organisiert, berichtet Antić: „Ein paar Mal die Woche treffen wir uns alle zusammen und diskutieren über wichtige Angelegenheiten und Ereignisse. Etwa, wie wir unsere politischen Forderungen kommunizieren.“
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Proteste in Serbien: Generalstreik legt das ganze Land lahm
Was Anfang Dezember in Novi Sad begann, hat das ganze Land erfasst. Inzwischen sind fast alle Fakultäten Serbiens besetzt. Und es sind längst nicht mehr nur Studierende, die protestieren: Die Professoren haben sich solidarisiert. Landwirte haben im Dezember Serbiens wichtigste Autobahn blockiert. Und bei einem Generalstreik Ende Januar blieben neben den Universitäten nicht nur die Schulen geschlossen, sondern auch viele Geschäfte, Restaurants und Bars.
Inzwischen geht es um mehr als nur um Aufklärung über die 15 Toten des Bahnhofseinsturzes. Vielmehr kritisieren die Demonstrierenden grundsätzlich die zunehmend autoritäre Herrschaft Vučićs und seiner Serbischen Fortschrittspartei. „Für viele war das Unglück im November der entscheidende Wendepunkt“, sagt Antić. Viele waren bereit, die im Land grassierende Korruption zu ignorieren. „Aber jetzt wurden 15 Menschen getötet und die Bürger sagten sich: Ok, es reicht.“
Das die Forderungen der Studierenden in der Bevölkerung einen breiten Rückhalt haben, belegt auch eine Ende Dezember durch das unabhängige Zentrum für Forschung, Verantwortung und Transparenz durchgeführte Umfrage, wonach 61 Prozent der Bürger die Proteste unterstützen. Dass die Proteste, wie von Vučić behauptet, vom Ausland gesteuert sind, glauben nur 33 Prozent der Befragten. Ähnlich sieht es auch mit Vučićs Zustimmungswerten aus. Aktuell würden 52 Prozent der Befragten gegen den Präsidenten stimmen, nur 34 Prozent halten zu Vučić.
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80 Kilometer zu Fuß: Protestmarsch von Belgrad nach Novi Sad
Ihren symbolischen Höhepunkt fanden die Proteste in der vergangenen Woche, als sich rund 500 Studentinnen und Studenten mit Wanderschuhen und Rucksäcken in der Hauptstadt Belgrad versammelten und zu Fuß nach Novi Sad zogen. Zwei Tage brauchten sie für die 80 Kilometer zwischen den zwei Städten, campierten zwischendurch bei winterlichen Temperaturen auf einem Fußballplatz. Wo sie langgingen, schlug ihnen laut Berichten nur Zustimmung entgegen. Viele Autofahrer hupten solidarisch und Anwohner versorgten die Studierenden mit Proviant.
Doroteja Antić erinnert sich noch, wie die Studierenden in Novi Sad eintrafen: „Es waren Tausende von Menschen auf der Brücke, als sie ankamen. Es war ein so liebevoller, einladender Abend, dass allen, die da waren, die Tränen der Freude kamen. Das war wirklich etwas Besonderes.“ Eigentlich war der Plan – so erzählt sie – für ein paar Stunden die drei Donaubrücken der Stadt zu blockieren. Doch es kamen so viele Menschen, dass nicht nur die Brücken, sondern die halbe Stadt blockiert war. „Ich und viele andere haben noch nie eine solche Atmosphäre in Novi Sad gesehen. Die Leute fingen an, es einen Scherz zu nennen, aber es sah wirklich aus wie das Fest der Freiheit“, erinnert sich Antić.

So reagiert Serbiens Regierung auf die Proteste
Wie schon bei anderen Protestbewegungen setzt Präsident Vučić auch diesmal auf Delegitimierung. Er und die Regierung versuchen die Proteste als vom Ausland gesteuert darzustellen. „Sie sagen, dass wir von den Kroaten finanziert werden oder von der Europäischen Union“, erzählt Antic. Doch EU-Flaggen sind auf den Protestmärschen kaum auszumachen.
Auch versuchen die Behörden, mit Polizeigewalt gegen die Studierenden vorzugehen. Mehrere von ihnen wurden schon verhaftet, angeklagt und eingeschüchtert. Auch Antić bekam das zu spüren: Als sie sich Anfang November einer Brückenblockade in Novi Sad anschließen wollte, wurden sie und ein Freund am Bahnhof in einen Transporter gezerrt und mehrere Stunden festgehalten. „Die Polizisten stellten ein paar dumme Fragen und wussten nach zehn Minuten nicht einmal, was sie uns fragen sollten. Aber sie hatten den Befehl, uns für ein paar Stunden festzuhalten, damit wir nicht protestieren“, erinnert sich Antić an den Vorfall.
Immer wieder gibt es auch schwere Gewaltakte gegen die friedlichen Protestmärsche. Schon mehrmals fuhren radikale Regierungsanhänger mit Autos in die Demonstrationen – mehrere Menschen wurden dabei schon schwer verletzt. Ende Januar verletzte schließlich ein regierungsnaher Schlägertrupp mehrere Protestierende schwer – einer Studentin wurde gar der Kiefer gebrochen. In Konsequenz trat schließlich Serbiens Premierminister Miloš Vučević zurück.
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Kommt es nun zu Neuwahlen in Serbien?
Eigentlich könnte das ein Grund zur Freude sein, doch bei vielen Protestierenden sorgt Vučevićs Rücktritt für Unsicherheit, auch bei Doroteja Antić: „Im Moment haben wir keinen Premierminister, was ein Problem ist, weil der Premierminister das höchste Amt im Lande innehat. Auch wenn es anders aussieht, weil Aleksandar Vučić dreimal am Tag im Fernsehen zu sehen ist.“ In absehbarer Zeit dürfte es nun in Serbien zu Neuwahlen kommen. Doch die Oppositionsparteien sind schwach aufgestellt und neue politische Bewegungen nicht in Sicht: „Die Studierendenbewegung und die Proteste sind eine Sache, eine politische Partei zu gründen ist eine andere Sache“, sagt Antić skeptisch.
Vučić dagegen versucht, auf die Studierenden zuzugehen: Er versprach die staatlichen Mittel für die Hochschulen um 20 Prozent zu erhöhen und von der Staatsanwaltschaft angeklagte Studierende und Lehrkräfte zu begnadigen, wenn die Proteste und Besetzungen aufhören würden. Serbiens Präsident glaubt dadurch die Forderungen der Protestierenden erfüllt zu haben, doch die sind skeptisch: „Niemand übernimmt die Verantwortung für den Mord an 15 Menschen“, kritisiert Antić. „Sie versuchen nur, ihre blutigen Hände reinzuwaschen.“ Sie und die anderen Protestierenden wünschen sich, dass nun wirkliche Konsequenzen folgen.
Und so werden sie und viele Tausend weitere Menschen weiterhin regelmäßig auf die Straße gehen. Für viele Ältere kommen dabei auch Erinnerungen an die 90er-Jahre hoch. Damals waren es auch von Studierenden angeführte Massenproteste, die 2000 schließlich zum Rücktritt des langjährigen serbischen Staatschefs Slobodan Milošević führten. Die Geschichte könnte sich also wiederholen. Doch für Antić ist klar: „Es kann ein langer Kampf werden.“