Berlin. Die Linke spürt vor der Bundestagswahl den Aufwind. Auch, weil ihre Co-Spitzenkandidatin TikTok verstanden hat wie wenige andere.

An dem Tag, an dem Heidi Reichinnek die vielleicht wichtigste Rede ihres bisherigen politischen Lebens gehalten hat, taucht sie in der 20-Uhr-Tagesschau nicht auf. In dem Beitrag über den Unionsantrag, der mit Stimmen der AfD beschlossen wird, ist Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz zu sehen, Bundeskanzler Olaf Scholz, auch FDP-Chef Christian Lindner und Britta Haßelmann, Co-Fraktionschefin der Grünen. Wie Reichinnek Friedrich Merz empört vorwirft, mit Rechtsextremen zu paktieren, wie sie mit der flachen Hand auf das Pult schlägt und Menschen zum Widerstand auffordert („Auf die Barrikaden!“), wird nicht gezeigt.

Und trotzdem erreicht Reichinneks Wutrede Millionen Menschen: Auf TikTok geht das Video, das die Rede in voller Länge zeigt, durch die Decke, der Zähler steht inzwischen bei 6 Millionen Aufrufen.

Heidi Reichinnek ist Co-Vorsitzende der Gruppe der Linken im Bundestag und gemeinsam mit Jan van Aken Spitzenkandidatin der Partei für die Bundestagswahl. Und sie und ihr TikTok-Account sind ein Grund, warum die totgesagte Linke gerade eine zarte Wiederauferstehung feiert.

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Im Herbst 2024 heißt die Frage: „Braucht es die Linke noch?“

Ein Rückblick: Nach Jahren des bitteren Streits und tiefer Wunden macht Sahra Wagenknecht im Herbst 2023 wahr, womit sie lange kokettiert hatte, verlässt die Linke und gründet eine eigene Partei. Dabei nimmt sie Abgeordnete und Mitglieder mit und bringt die Linke so um den Fraktionsstatus im Bundestag. In der Folge geht es für die Linke abwärts – in den Umfragen, vor allem aber auch bei Wahlen. Bei der Europawahl 2024 holt sie noch 2,7 Prozent, in Brandenburg fliegt die Partei aus dem Landtag. „Braucht es die Linke noch?“, diese Frage steht im Herbst 2024 in Schlagzeilen.

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#2 Sahra Wagenknecht über den Bruch mit der Linken

Meine schwerste Entscheidung

Doch seitdem hat sich etwas gedreht. Seit ein paar Wochen ist die Partei im Aufwind, mehrere Umfragen sahen sie zuletzt bei oder sogar über fünf Prozent. Bei vielen Wahlkampfveranstaltungen ist der Andrang riesig.

Das hat auch mit Heidi Reichinnek zu tun: Die 36-Jährige ist eine Ausnahmeerscheinung in der Politik, und das nicht nur, weil junge Frauen im Bundestag immer noch eine kleine Gruppe sind. Reichinnek ist gleichzeitig Taylor Swift- und Metal-Fan, war vor ihrem Einzug in den Bundestag in der Jugendhilfe tätig. Sie spricht vor allem junge Leute an – und das ganz gezielt dort, wo die ihre Zeit verbringen: auf TikTok.

Reichinnek ist seit 2021 auf TikTok und dort zur Kultfigur geworden

Seit 2021 ist sie dort aktiv, lang bevor die meisten anderen Politikerinnen und Politiker sich an die Videoplattform herantrauten. Und in dieser Zeit habe sie viel Erfahrung gesammelt, sagt Martin Fuchs, Politikberater und Kommunikationsexperte: „Reichinnek hat einen eigenen Stil und Formate gefunden, die in der Logik der Plattform funktionieren, in denen sie aber trotzdem über komplexe Themen reden kann und dabei authentisch ist.“ Sie nehme die Leute und ihre Anliegen ernst, produziere mit viel Aufwand und oft auch exklusiv für TikTok Videos. „Sie hat die Plattform einfach gut verstanden, sie ist ja nicht erst seit dieser Bundestagsrede eine Kultfigur dort“, sagt Fuchs. Fast eine halbe Million Follower hat Reichinnek angesammelt, mehr als 13 Millionen Likes.

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Die Linken-Spitzenkandidaten setzt dabei auf eine Strategie, die auch die AfD verfolgt: Reden im Bundestag sind nicht nur an andere Abgeordnete gerichtet, sondern oft auch gleichzeitig zugeschnitten auf die Verwertung online. „Eine emotionale Wutrede wie die aus der letzten Woche wird so auch deswegen gehalten, weil sie online funktioniert“, sagt Fuchs.

Ausgerechnet Wagenknecht zeigt: Social-Media-Reichweite allein ist nicht genug

Allerdings: Online-Reichweite allein ist keine Erfolgsgarantie. Das zeigt ausgerechnet die Frau, die Linke einst gespalten hat. Denn auch Sahra Wagenknecht ist geübte Nutzerin von Social Media. Sie hat vor allem auf Youtube, aber auch auf Instagram und TikTok Hunderttausende Abonnenten. Trotzdem muss ihre Partei, das Bündnis Sahra Wagenknecht, ernsthaft darum fürchten, am 23. Februar den Sprung in den Bundestag zu verpassen. Nach dem Senkrechtstart im vergangenen Jahr, der das BSW bis in Regierungsverantwortung auf Landesebene gebracht hat, steht die Partei jetzt in Umfragen unter fünf Prozent. Es gibt internen Streit und Austritte, Wagenknecht selbst verknüpft ihre politische Zukunft mit dem Einzug in den Bundestag.

„Wir kommen mit dem Drucken von Mitgliedsausweisen nicht hinterher“

Janis Ehling
Bundesgeschäftsführer Die Linke

Die Linke über fünf Prozent, das BSW darunter – es könnte das politische Comeback dieses Wahlkampfs werden. Ruft man in diesen Tagen im Karl-Liebknecht-Haus an, erreicht man Linken-Politiker, die kaum fassen können, wie gut es für ihre Partei im Moment läuft. Partei-Neueintritte habe es seit der Abspaltung des BSW konstant jede Woche gegeben, sagt Bundesgeschäftsführer Janis Ehling. „Aber was jetzt seit dem Parteitag in Berlin im Januar passiert, ist komplett verrückt. Wir haben zum Teil mehrere Tage pro Woche mit mehr als 2000 Eintritten. Wir kommen mit dem Drucken von Mitgliedsausweisen nicht hinterher.“

Dass Reichinnek als Spitzenkandidatin eine so große Reichweite online mitgebracht habe, das sei natürlich „fantastisch“, sagt er, aber nicht der einzige Grund für den Erfolg. Ehling verweist auf den klaren Fokus der Kampagne der Partei auf Mieten und Preise – und die vielen Gesichter, die diese Botschaft an unterschiedliche Wählergruppen herantragen könne. Neben dem Spitzenduo aus Reichinnek und Jan van Aken gibt es auch die sogenannten „Silberlocken“ Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow. Die drei altgedienten Linken-Politiker kämpfen um drei Direktmandate, um der Partei über die Grundmandatsklausel den Einzug in den Bundestag zu sichern – falls es für die fünf Prozent doch nicht reicht.