Berlin. Neue Zahlen zeigen einen Trend bei jungen Menschen, der Ermittler beunruhigt. Doch es gibt etwas, das die Statistiken nicht verraten.

Erst sprühten die Jugendlichen ihr Pfefferspray ab, dann traten sie zu. Die Teenager trafen die Köpfe der beiden obdachlosen Männer, schlugen weiter zu. Einer der jungen Täter filmte die Gewalt mit dem Handy. Eines der Opfer starb kurz darauf im Krankenhaus.

Es war eine Nacht im Februar des vergangenen Jahres, als die drei Jugendlichen im nordrhein-westfälischen Moers losschlugen. Ihre Opfer, die Wohnungslosen, wählten sie offenbar zufällig aus. Vor wenigen Wochen verurteilte ein Gericht die Täter zu mehrjährigen Jugendhaftstrafen.

Teen boy behind fence confinement, boarding school restrictions, broken future
Scheitern in der Schule, Armut, Gewalterfahrungen in der Familie, soziale Enge: All das können Faktoren sein, warum junge Menschen straffällig werden. © iStock | Motortion

Die Tat von Moers ist ein extremer Fall. Gleichzeitig ist es kein Einzelfall. Die Tat steht für einen Trend, der Ermittler aktuell beunruhigt: Die Polizei registriert eine wachsende Zahl junger Täterinnen und Täter. Nicht die Zahl der Straftaten schießt durch die Decke. Doch was Ermittler bemerken, ist eine schnellere Eskalation der Gewalt unter jungen Menschen. Darauf deuten jedenfalls die Statistiken der Polizei hin. Und an die Zahlen schließt sich die Frage an, was dran ist an der These einer brutaleren Jugend.

Unserer Redaktion liegt das aktuelle Lagebild der Polizei in Nordrhein-Westfalen zur Jugendkriminalität vor, das nun veröffentlicht werden soll. Was in dem Bundesland mit 18 Millionen Einwohnern passiert, ist stark ausschlaggebend für ganz Deutschland. 765.305 Straftaten klärte die Polizei in NRW 2023 insgesamt auf. An 154.645 Fällen waren Menschen unter 21 Jahre, also Kinder, Jugendliche und junge Heranwachsende, als Tatverdächtige beteiligt. Das sind 20,2 Prozent.

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Wie wir fühlen

Die Fallzahlen steigen seit Ende der Pandemie an. Zugleich aber liegen sie nicht über den Werten von vor zehn Jahren. Im Gegenteil: Im Vergleich zu den 1990er-Jahren sinkt die Kriminalität – auch unter Jugendlichen. Heute ist Diebstahl noch immer das häufigste Delikt bei jungen Menschen, auch die Sachbeschädigung gehört dazu.

Doch etwas fällt in der Statistik auf. Nicht nur die Polizei, auch Schulen und Jugendämter nehmen das während ihrer Arbeit wahr: Konflikte unter jungen Menschen eskalieren schneller. Und die mutmaßlichen Täter werden jünger.

Was früher ein Ladendiebstahl gewesen sei, sei heute ein Raub mit Körperverletzung, sagen Kriminalbeamte. Und nicht unbedingt öfter werde zugeschlagen – aber härter. Die Verletzungen seien schwerwiegender, auch durch Tatwaffen wie Messer. Es ist ein Alltagssensor bei Sozialarbeitern und Beamten, der ausschlägt. Bisher ist eine mögliche „Brutalisierung“ der Jugend wenig wissenschaftlich untersucht. Und auch die Aussagekraft der Polizeistatistiken ist umstritten, da diese ja nur erfassen, wovon die Beamten tatsächlich auch erfahren, und was sie kontrollieren.

Was ins Auge sticht: Die Fallzahl bei Kindern steigt schnell und stark an

Das Lagebild aus NRW liefert Indizien. Die aufgeklärten Raubdelikte in dem Bundesland stiegen von 2045 im Jahr 2019 auf 3461 im Jahr 2023. Die allermeisten Tatverdächtigen sind junge Männer, doch gerade bei Mädchen unter 14 Jahre stieg die Zahl von 2022 zu 2023 deutlich an, von 57 auf 77.

Ähnliches stellt die Polizei bei Körperverletzungen fest. Die Polizei erfasst mehr Fälle als noch vor fünf oder zehn Jahren. Das kann aber auch an stärkeren Kontrollen und mehr Meldungen von Betroffenen liegen. Was ins Auge sticht: Während Deliktzahlen der Körperverletzung bei Jugendlichen und Heranwachsenden bis 21 Jahre über die vergangenen Jahre gleich bleiben, steigt die Fallzahl bei Kindern schnell und stark: von 3026 Fällen im Jahr 2021 auf 5780 Fälle im Jahr 2023.

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    Es sind Zahlen aus NRW, die sich auch mit bundesweiten Statistiken der Polizei decken. Mehr als 104.000 tatverdächtige Kinder ermittelte die Polizei in Deutschland laut Bundeskriminalamt 2023, ein Anstieg um 43 Prozent im Vergleich zu 2019, also vor der Corona-Pandemie. Bei den Jugendlichen stieg die erfasste Kriminalität immerhin um 17 Prozent.

    „Mich besorgt, dass die Täter gewaltsamer werden. Wir haben es öfter mit Raub oder Diebstahl zu tun. Auch die Zahl der Täter, die mehrfach straffällig werden, ist gestiegen“, sagt Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) unserer Redaktion. Mit den Zahlen der tatverdächtigen Kinder und Teenager steigt auch die Zahl der jungen Opfer. Oft sind sie selbst geschädigt. Das NRW-Lagebild verzeichnet einen Anstieg um 8,3 Prozent von 2023 zu 2022, und sogar eine Zunahme der Geschädigtenzahl bei Menschen unter 21 Jahre um fast 40 Prozent seit 2014.

    Der Soziologie Wilhelm Heitmeyer spricht von einer „Durchrohung“ der Gesellschaft

    Oft ist von „Verrohung“ die Rede, wenn Politik und Medien über Gewalt unter Jugendlichen diskutieren. Tatsächlich erkennt die Forschung nicht nur bei jungen Menschen diesen Trend. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht angesichts von Krisen wie Pandemie, Klimakatastrophe und Krieg in der Ukraine von einer „Durchrohung“ der Gesellschaft, die auch in Deutschland zu spüren sei. Polizeibehörden registrieren seit Jahren mehr Übergriffe auf Rettungskräfte oder kommunale Politikerinnen und Politiker. Extremistische Gewalt in vielen politischen Lagern wächst. Die Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger schreibt von einer „neuen Härte“. Polizeistatistiken registrieren auch bei erwachsenen Tätern zuletzt steigende Fallzahlen – auch hier ein neuer Trend nach vielen Jahren des Rückgangs.

    Es wundert nicht, dass sich dies in den Statistiken zur Jugendkriminalität spiegelt. „Das ist nicht nur ein Problem der Jugend, sondern ein Weckruf an uns alle. Wir müssen mehr aufeinander achten und zusammenhalten“, sagt auch Reul.

    Was gilt, ist nach Ansicht von Fachleuten auch: Gewalt wird sichtbarer. Was früher im Verborgenen blieb, landet heute als Video im Internet. Jugendliche, wie die Täter von Moers, filmen Gewalt mit ihren Handys, prahlen, verschicken die Dateien an Freunde. Das sind neue Dynamiken. Was auf Straßen, Plätzen, an Bahnhöfen oder auf Schulhöfen passiert, läuft ein zweites Mal wenig später als Film im Netz.

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    Eine mögliche Härte unter Jugendlichen sehen Fachleute auch in den Folgen der Corona-Pandemie. Studien zeigen, dass psychische Erkrankungen unter Jugendlichen durch Lockdown und Schulschließungen angewachsen sind. Vor allem aber ringen Jugendliche mit dem Bildungssystem, scheitern in der Schule. Das kann ein Faktor für wachsende Gewalt sein.

    Raub ist nicht nur ein Gewaltdelikt, oftmals wollen Täter Beute machen. Und so sieht das Bundeskriminalamt die wachsenden Fallzahlen auch als Folge wirtschaftlicher Krisen, die Menschen durch Inflation und Arbeitslosigkeit erleben. Die Forschung hat belegt, wie sich prekäre Lebenslagen auf Kriminalität auswirken. Armut rechtfertigt Gewalt nicht, und doch liefert sie einen Grund für die steigenden Polizeistatistiken.

    Intensivtäter: durchschnittlich 100 Opfer und 1,7 Millionen Euro Kosten

    Dennoch gilt: Die meisten jungen Menschen kommen nur ein oder zwei Mal mit der Polizei in Kontakt. Teenager testen ihre Grenzen, doch spätestens ab 20 wächst sich Kriminalität allmählich raus. Doch einzelne junge Menschen beschäftigen die Polizei über Monate mit etlichen Straftaten. Die Beamten sprechen von „Intensivtätern“, die „kriminelle Karrieren“ einschlagen. Das Lagebild hält fest: Durchschnittlich seien es 100 Opfer und 1,7 Millionen Euro Kosten, die auf einen solchen Täter bis zum 25. Lebensjahr zurückgehen.

    Unter ihnen sind laut Polizei immer wieder auch junge Geflüchtete. Sie sind in den Kriminalstatistiken zuletzt überrepräsentiert. Mehr als 32 Prozent der Tatverdächtigen hatten laut dem Lagebild für 2023 in NRW keinen deutschen Pass. Kriminologen sehen die Ursache dafür, dass viele von ihnen Gewalt in ihrem Heimatland und auf der Flucht selbst erfahren haben. Wer Gewalt als Kind in der Familie erlebt, trägt ein deutlich höheres Risiko, später selbst Gewalt als Mittel in Konflikten anzuwenden. Zugleich gelten gerade die oben genannten Faktoren wie Armut und soziale Enge für Menschen, die in Asylunterkünften leben.

    Vor allem Politiker der Union fordern regelmäßig Gesetzesverschärfungen und härtere Strafen für kriminelle Jugendliche. Aus der Fachwelt – von Pädagogen, Therapeuten und der Jugendhilfe – kommt Widerspruch.

    NRW-Innenminister Herbert Reul nimmt Eltern in die Pflicht.
    NRW-Innenminister Herbert Reul nimmt Eltern in die Pflicht. © dpa | Christoph Reichwein

    In NRW arbeitet die Polizei seit 2011 mit der Jugendhilfe zusammen, um Kinder und Jugendliche aus „kriminellen Karrieren“ herauszuholen. Die Mitarbeitenden der Behörden machen für einzelne Fälle ein „Risikoscreening“, beleuchten die Lebensgeschichte eines Jugendlichen, blicken auf mögliche Gewalterfahrungen, fehlende Tagesstruktur, einen möglichen kriminellen Freundeskreis. Und sie suchen nach alternativen Wegen zur Kriminalität – oftmals gemeinsam mit Geschwistern und Eltern der Jugendlichen. Laut Innenbehörden nahmen 1200 Kinder und Teenager in den vergangenen 13 Jahren an dem Projekt teil. Die Rückfallquote lag Ministeriumsangaben zufolge bei unter zwei Prozent. Das Innenministerium verweist dabei auf eigene Evaluationen des Projekts. In anderen Bundesländern gibt es vergleichbare Initiativen.

    Jugendsozialhilfe ringt immer wieder mit der Finanzierung

    Kriminologen kritisieren, dass mit dem Projekt die Polizei die Soziale Arbeit vereinnahmt. Immer wenn Sicherheitsbehörden mit am Tisch sitzen, droht Strafverfolgung. Und damit auch das Risiko eines Vertrauensbruchs zwischen den Street Workern und den Jugendlichen. Die Polizei unterliegt dem Legalitätsprinzip: Wenn sie von Straftaten erfährt, muss sie diese auch verfolgen.

    SPD-Innenexperte Sebastian Fiedler kritisiert, dass die aktuelle Landesregierung die Finanzierung von „Kurve kriegen“ eingestrichen hatten. Eine Erhöhung des Budgets um knapp 900.000 Euro lehnten CDU und Grüne im Landtag ab. Fiedler ist verärgert: „Jeder dort investierte Euro zahlt sich zehnfach aus.“ Nach Angaben des Reul-Ministeriums war der Etat des Projekts lediglich um 270.300 Euro gekürzt worden, knapp drei Prozent des Gesamtbudgets. Das Angebot sei nicht verkleinert worden, man habe „Redundanzen“ vermieden.

    Nicht nur in NRW, sondern bundesweit sehen sich Jugendsozialarbeiter immer wieder mit Kürzungsplänen im Haushalt von Bund und Ländern konfrontiert. Über viele Jahre wurden Jugendzentren geschlossen, Hilfsangebote gekürzt. Das rächt sich heute, sagen Fachleute. Und warnen vor weiteren Etatkürzungen bei der Jugendhilfe. Ein Angebot abseits der Schule sei eine wichtige Säule der Gewaltprävention.

    Reul: „Erziehung darf kein leeres Wort sein, sondern ist Auftrag und Pflicht zugleich“

    Zugleich stößt die Polizei bei Straftaten von Kindern oft an Grenzen, Beamtinnen und Beamte sind unsicher im Umgang mit den Menschen, die nicht strafmündig sind. Zugleich blocken Schulen oftmals ab, wenn Sicherheitsbehörden bei Eskalationen Hilfe anbieten, so berichten es mehrere Innenpolitiker und Ermittler.

    Innenminister Reul will Lehrkräfte stärker in die Gewaltprävention einbinden. Der CDU-Politiker sagt zugleich: „Schule kann nicht alles auffangen, was in der Erziehung falsch gelaufen ist.“ Eltern müssten ihren Kindern beibringen, Konflikte ohne Schläge oder Tritte zu lösen. „Erziehung darf kein leeres Wort sein, sondern ist Auftrag und Pflicht zugleich.“

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