Berlin. Schlagen Söhne oder Töchter ihre Väter und Mütter, ist das ein Tabu. Eltern schämen sich. Fachleute sprechen vor allem eine Warnung aus.
An einem der letzten Novembertage des Jahres 2024 kommt es in einem Wohnhaus im Hamburger Stadtteil Sasel zum Äußersten. Der 19 Jahre alte Sohn schlägt zu. Immer wieder trifft er laut Polizeimeldung auch den Kopf des Vaters. Nach der Gewalteskalation stellt sich der Teenager in einer Polizeidienststelle. Notarzt und Beamte entdecken den 62 Jahre alten Vater in der Wohnung. Er wird an den Verletzungen sterben.
Es ist ein extremer, seltener Fall. Bisher ist unklar, was die Gründe des Konflikts waren. Doch die mutmaßliche Tötung legt den Fokus auf ein Thema, das selten öffentlich wird: Wenn Kinder ihre eigenen Eltern schlagen. Gewalt in der Familie zwischen Generationen kommt bisher meist auf die Agenda, wenn es umgekehrt läuft: Wenn Väter ihre Söhne oder Töchter missbrauchen. Wenn Eltern ihre Kinder schlagen. Es sind Straftaten, die geächtet sind. Schläge des eigenen Kindes aber bleiben noch immer ein Tabuthema. Auch für die betroffenen Eltern.
Manchmal beginnt es mit Drohungen oder Erpressung, mit Brüllen, Spucken, Schimpfen. Irgendwann wachsen aus Worten Tritte und Schläge, greift ein Jugendlicher zum Küchenmesser. Die Fachliteratur hat ein Wort dafür erfunden: „parent battering“, Elternmisshandlung. Was nach dem Konflikt bleibt, sind die Verletzungen am Körper. Und die verletzten Gefühle. Scham, Wut, Angst.
Es fehlen neue Studien, gerade für Deutschland. Nachbarländer gehen voran. Seit drei Jahren gibt es in jeder österreichischen Polizeidienststellen Präventionsbeamte, die auf häusliche Gewalt spezialisiert sind. Eva Schuh leitet das Gewaltschutzzentrum Oberösterreich. Sie erzählt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass die Fälle in ihrer Einrichtung nicht unbedingt zunehmen, aber die Gewalt brutaler werde. Dass Kinder schneller zuschlagen. Und Eltern erst Hilfe holen würden, wenn es schon ein oder zwei Mal in der Woche zu Konflikten komme. Nicht einmal im Monat. Das Schweigen aber hilft vor allem den Tätern, verleiht ihnen ein Machtgefühl.
In 8,4 Prozent der Fälle waren Geschädigte Eltern oder Großeltern eines Tatverdächtigen
Brutale Übergriffe zwischen den Generationen sind statistisch nur grob erfasst. Das Bundeskriminalamt registriert im Lagebild rund 250.000 Betroffene von „häuslicher Gewalt“. In 8,4 Prozent der Fälle (21.618) waren die Geschädigten Eltern oder Großeltern eines Tatverdächtigen. Das BKA schreibt, dass ein Drittel der Opfer von Mord und Totschlag die Eltern der tatverdächtigen Person waren. Das sind nur die Zahlen, die der Polizei bekannt werden. Das Dunkelfeld liegt deutlich höher.
Auslöser für die Konflikte kann ein Streit um Geld sein, sagt Schuh. Vielleicht Eifersucht, Enttäuschungen im Alltag. Was aber gilt: „Gewalt fällt nicht vom Himmel, sie hat immer eine Vorgeschichte“, sagt Martin Rettenberger von der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. „Täter waren selbst oftmals in der Vergangenheit Opfer von Übergriffen.“
Das Schlagen und das Treten sind erlernt – nicht selten von den eigenen Eltern. Gewalt ist vererbbar. Und deshalb sucht die Gesellschaft die Verantwortung für schlagende Kinder meist bei Vätern oder Müttern. Doch oft gibt es nicht nur eine Ursache. Immer wieder sind Kinder psychisch erkrankt, sind Drogen im Spiel.
Rettenberger und ein Team an Forschenden arbeiten mit Eva Schuhs Gewaltschutzzentrum nun an einer wegweisenden Studie. Sie wollen mehr darüber herausfinden, was Risikofaktoren für eskalierende Gewalt sind und was zugleich wirksame Instrumente sein können, Familien aus diesen schwierigen Situationen zu helfen.
Aus der bisherigen Forschung ist bekannt, dass bei Menschen, die Schläge als Mittel der Konfliktlösung sehen, eine verringerte Impulskontrolle vorherrscht. Menschen sind oft rastlos, reagieren emotional. Hinzu kommt ein übermäßiges Maß an Aggressivität.
Darüber, ob ein Mensch im Alltag Gewalt anwendet, entscheidet nicht nur die Persönlichkeit. Viel kann auch von der Lebenssituation abhängen, von den äußeren Umständen. Eva Schuh berichtet, dass Kinder und Eltern oftmals in einem Wohnhaus leben, wenn Konflikte eskalieren. Es braucht die soziale Nähe, um asozial zu sein. Leben Menschen in prekären Lagen wie etwa Geflüchtete in Asylunterkünften, kann es schneller eskalieren. Armut und Enge sind Risikofaktoren für Gewalt.
Eltern sollen Kinder beschützen, behüten – so gibt es die Gesellschaft in ihrem Idealbild vor. Den eigenen Sohn anzuzeigen und vielleicht ins Gefängnis zu bringen, ist für Väter und Mütter eine große Hürde. Der Familie gibt das Grundgesetz zugleich besondere Rechte. Die Familie ist geschützt, sie ist aber oft auch abgeschottet. Von der Nachbarschaft, vom Zugriff des Staates, etwa der Polizei oder dem Jugendamt. Beides, die Scham und die Abschottung, erhöhen die Risiken dafür, dass Konflikte eskalieren, weil die Betroffenen keine Hilfe einfordern.
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Ist ein Elternteil unmittelbar in Gefahr durch das Kind, rät Schuh dazu, die Polizei zu rufen. Sonst helfen Beratungsstellen. Und natürlich kann auch der andere Elternteil eine Stütze sein. Vor allem aber eine Warnung sprechen Fachleute wie Eva Schuh von der Hilfseinrichtung in Oberösterreich aus: „Menschen kommen oftmals zu spät zu uns.“ Erst dann, wenn die Gewalt sich bereits wie eine Routine in den Alltag eingeschrieben hat. Dabei, sagt die Forschung, sei eine Intervention gegenüber den Tätern besonders erfolgversprechend, wenn sie sofort kommt. Wenn Eltern unmittelbar Grenzen setzen.
Falls Sie von Gewalt betroffen sind, finden Sie Kontakte zu Beratungsstellen auf der Webseite des Bundesfamilienministeriums, hier.