Berlin. Der Anschlag in Magdeburg erschüttert Deutschland. Terrorismusexperte Guido Steinberg warnt vor einem Erstarken der islamistischen Szene.
An diesem Donnerstag war es acht Jahre her, dass der islamistische Terrorist Anis Amri einen gestohlenen Sattelzug gezielt in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Charlottenburg steuerte. Damals starben 13 Menschen, 54 wurden schwer verletzt. Am Freitagabend gab es nun offenbar einen weiteren Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Deutschland – diesmal in Magdeburg. Ein Auto fuhr in die Menschenmenge. Es gab zahlreiche Verletzte, mindestens einen Toten. Zum Hintergrund ist bisher noch nichts bekannt.
Der Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz vom 19. Dezember 2016 hat die deutsche Gesellschaft verändert. Viel ist seitdem auch in der Terrorbekämpfung passiert. Bei weitem nicht genug, findet jedoch der Terrorismusexperte und Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Im Interview mit dieser Redaktion erklärt er, warum Anis Amri noch heute ein Vorbild in dschihadistischen Kreisen ist, warum die Gefahr islamistischer Anschläge größer wird und warum in Deutschland dringend ein Umdenken stattfinden sollte.
Herr Steinberg, das Attentat des tunesischen Islamisten Anis Amri jährt sich zum achten Mal. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Weihnachtsmärkte an diesem Datum das Ziel islamistischer Anschläge werden?
Man konnte in den letzten Monaten beobachten, dass die Gefahr durch islamistische Attentäter in Europa wieder zugenommen hat. Es gab eine ganze Reihe von erfolgreichen und vereitelten Einzeltäteranschlägen, aber auch von Planungen von Gruppierungen wie dem IS. Zuletzt wurden drei junge Islamisten in Baden-Württemberg und Hessen festgenommen. Wichtige Ziele der Terroristen sind dabei nach wie vor Gotteshäuser, Konzerte und Weihnachtsmärkte. Letztere übten auch in den Jahren zuvor aufgrund ihrer vermeintlich christlichen Symbolik eine große Anziehungskraft auf die dschihadistische Szene aus. Unsere Sicherheitsbehörden tun daher gut daran, mit Anschlagsplänen auch an diesem wichtigen Jahrestag zu rechnen.
Ist Anis Amri denn immer noch ein Vorbild für die Attentäter?
Ja, der Anschlag von Anris Amri ist durchaus einer, der in der dschihadististischen Szene bis heute wahrgenommen wird. Das gilt besonders für IS-nahe Kreise. Ganz einfach deshalb, weil sich Anis Amri in einem Video zum IS bekannt und dem IS-Kalifen die Treue geschworen hat. Außerdem ist er in eine IS-Moschee in Berlin gegangen. Wir können zudem beobachten, dass sich einige Dschihadisten noch immer für den Modus Operandi von Anis Amri interessieren. Auch wenn er nicht der erste und nicht der Letzte war, der einen LKW in eine Menschenmenge auf einem belebten Platz gelenkt hat. Diese Vorgehensweise taucht in Planungen immer wieder auf. Im Oktober erst soll das Vorhaben eines IS-Rückkehrers aus Syrien vereitelt worden sein. Er wollte eine proisraelische Veranstaltung in Duisburg mit einem LKW angreifen. Anis Amri hat also noch immer Vorbildfunktion für viele Dschihadisten.
Wie viele Menschen in Deutschland sind radikalisiert genug für einen derartigen Anschlag?
Die aktuellen Gefährderzahlen liegen im mittleren dreistelligen Bereich und damit deutlich niedriger als früher. Das liegt daran, dass viele Gefährder der Vergangenheit zum Islamischen Staat nach Syrien, in den Irak oder nach Libyen gegangen sind, dort entweder gestorben sind oder gefasst wurden und in Gefängnissen einsitzen. Die große Gefahr ging zuletzt aber nicht von IS-Rückkehrern aus, die lange die öffentliche Debatte bestimmten, sondern von Flüchtlingen. Es war in den letzten Jahren jedenfalls auffällig, dass sehr viele Attentäter weder der Polizei noch den Nachrichtendiensten bekannt waren. Häufig, weil sie erst vor kurzer Zeit nach Deutschland eingereist sind. Deswegen gibt die Gefährderstatistik auch kaum Aufschluss darüber, wie hoch die Zahl der potenziellen Attentäter wirklich ist. Ich schätze die Zahl der Dschihadisten in Deutschland, die gewillt sind, Gewalt anzuwenden, auf eine hohe dreistellige Zahl. Unabhängig davon, wie man zur Einreise von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten steht, müssen deutsche Politiker akzeptieren, dass mit ihnen ein hohes Sicherheitsrisiko verbunden ist.
Wie wirkt sich in dieser Hinsicht der Zusammenbruch des Assad-Regimes auf unsere Sicherheit aus?
Der Sturz des Assad-Regimes und die Machtübernahme von HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham) hat das Potenzial, die europäische Sicherheit weiter zu beeinträchtigen. Zwar hat sich HTS schon 2017 von al-Qaida distanziert und erklärt, keine Anschläge international zu verüben, doch ist der Sieg der Dschihadisten in Syrien ebenso ein Fanal wie es der Sieg der Taliban in Afghanistan 2021 war. In Syrien dürfte die größte Gefahr vom IS ausgehen. Der erstarkt schon seit ein oder zwei Jahren und die syrischen Kurden halten noch 9000 IS-Kämpfer in Gefängnissen im Osten fest, unter ihnen 2000 Ausländer und davon rund 30 Deutsche. Wenn die Situation im Land instabil bleibt, die Kurden weiter unter den Druck der Türkei und des neuen Regimes kommen und auch noch die USA ihre Truppen zurückziehen, wächst die Gefahr, dass viele IS-Kämpfer freikommen und die Organisation weiter erstarkt.
Ist der Nahostkonflikt ein weiterer Katalysator?
Man kann durchaus beobachten, dass der Krieg in Gaza in der Propaganda von Gruppen wie dem IS oder Al-Qaida eine große Rolle spielt. In der Szene herrscht angesichts der erneuten Eskalation in Nahost vielfach der Eindruck vor, dass jetzt die Zeit zum Handeln sei. Ich würde trotzdem immer wieder darauf hinweisen, dass der Trend zu mehr dschihadistischen Attentaten schon lange vor dem Überfall der Hamas auf Israel im Oktober 2023 zu beobachten war. Spätestens seit 2022.
Hat sich das Vorgehen der Islamisten seit Anis Amri verändert? Gibt es mehr Einzeltäter?
Schon in der IS-Zeit von 2014 bis 2016 hat es eine ganze Reihe an Einzeltätern gegeben. Die Organisation selbst hat zwar immer die großen Anschläge wie in Paris im November 2015 und in Brüssel im März 2016 präferiert, bei denen Rückkehrer aus dem Kriegsgebiet mit Kampfausbildung und nach sorgfältiger Planung wieder einreisen, sich mit lokalen Gruppen zusammentun und zuschlagen. Der IS hat sich allerdings nie als besonders wählerisch erwiesen. Schon 2014 hat er parallel auch zu Einzeltäteranschlägen in der ganzen westlichen Welt aufgerufen.
Welcher Attentäter-Typ war Anis Amri?
Es gibt einmal die Einzeltäter, die keinen tatsächlichen Kontakt zur Organisation haben und lediglich dschihadistische Propaganda konsumieren. Die sind meist nicht besonders effektiv. Dann wiederum gibt es angeleitete Anschläge. Das ist die große Innovation des IS im internationalen Terrorismus. Die Organisation spricht über soziale Medien potenzielle Attentäter gezielt an, schult sie ideologisch und hilft ihnen, Anschlagsziele und Tatmittel auszuwählen. Anis Amri dürfte angeleitet worden sein, hatte aber auch enge Kontakte in die dschihadistische Szene in Berlin. Angeleitete Anschläge sind das bevorzugte Mittel des IS seit der militärischen Niederlage in Syrien und im Irak, als keine ausgebildeten Kämpfer mehr nach Europa zurückgeschickt werden konnten. Allerdings sind die US-Amerikaner mittlerweile im Regelfall in der Lage, die Kommunikation der Terroristen abzufangen und die westlichen Partner vor ihnen zu warnen.
Wie aufgeschmissen wäre Deutschland ohne die Hilfe ausländischer Nachrichtendienste?
Allgemein gilt: Immer dann, wenn Attentäter im Vorfeld nicht kommunizieren – wie etwa im Fall des Messerangriffs von Solingen – dann ist die Gefahr besonders groß. Die deutschen Sicherheitsbehörden haben keinen echten Zugriff auf die dschihadistische Szene im Land. Wenn aber kommuniziert wird, dann sind es die Amerikaner oder in Einzelfällen die Briten und Israelis, die auf Gefahren hinweisen. Ohne die amerikanische Hilfe hätten wir hier schon mehrere Anschlagswellen mit Dutzenden und vielleicht hunderten von Toten erlebt. Für den ersten Hinweis auf Terrorplanungen ist Deutschland vollkommen von den USA abhängig.
Haben die deutschen Sicherheitsbehörden denn nicht aus dem Amri-Desaster von 2016 gelernt?
Ich würde eher sagen, die Amerikaner haben gelernt. Die US-Dienste hatten in den Jahren 2014 bis 2017 große Probleme in der Überwachung der Telekommunikation etwa beim Messengerdienst Telegram. Deswegen gab es die katastrophalen Anschläge in Europa. Ab 2017 haben die Amerikaner diese Probleme in den Griff bekommen. Mittlerweile sind sie in der Lage, fast jede Planung, über die etwa auf Telegram gesprochen wird, zu vereiteln. Auf diese amerikanische Hilfe verlassen sich die deutschen Sicherheitsbehörden noch immer uneingeschränkt. Die große Frage ist daher, wie sehr die Amerikaner nach dem Wahlsieg von Donald Trump in Zukunft noch bereit sein werden, diese Informationen mit uns zu teilen. Möglicherweise wird die Kooperation nunmehr an Bedingungen oder Geldzahlungen geknüpft. Es ist jedenfalls geradezu fahrlässig, dass die deutschen Sicherheitsbehörden seit 2016 keine eigenen Kapazitäten aufgebaut haben.
Ist also gar nichts gemacht worden?
Zielführend und pragmatisch war die Stärkung des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums in Treptow nach 2016. Wir dürfen nicht vergessen, dass es in Deutschland noch immer 38 Behörden gibt, die sich mit der Terrorbekämpfung beschäftigen, da ist eine bessere Koordination und ein besserer Austausch zwischen Ländern und Bund und Polizei und Diensten angebracht. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob so etwas wie der Fall Anis Amri nicht doch noch einmal passieren könnte. Der ist damals aus einem in der Terrorismusbekämpfung ganz gut aufgestellten Bundesland NRW in das deutlich schwächere Berlin umgezogen und konnte sich trotz Warnungen aus Düsseldorf ungestört vorbereiten. Die föderale Struktur kann ein Sicherheitsrisiko sein.
Werden sich deutsche Sicherheitsbehörde angesichts der gestiegenen Bedrohung nicht irgendwann ändern müssen?
Ich hatte immer geglaubt, dass, wenn einmal ein großer Anschlag in Deutschland verübt wird, das dazu führt, dass die Deutschen ihre Terrorismusbekämpfung und ihre Telekommunikationsüberwachung auf den Stand der Zeit bringen. Das ist offensichtlich auch nach dem Anschlag von Anis Amri nicht geschehen. Eine grundsätzliche Änderung scheint erst möglich, wenn einmal ein noch größerer Anschlag die Bundesrepublik erschüttert. Natürlich hoffe ich, dass das nicht passiert. Wir werden dennoch mittelfristig nicht um harte Sicherheitsmaßnahmen, eine Stärkung der Sicherheitsbehörden und vor allem der Nachrichtendienste und effektive Einreisekontrollen vorbeikommen, wenn wir Menschenleben schützen wollen.
Am 19. Dezember 2016 starben 13 Menschen. Haben Sie den Eindruck, dass sich die Gesellschaft dadurch verändern hat?
Der Anschlag vom Breitscheidplatz hat seine Spuren in großen Kreisen der Bevölkerung hinterlassen. Das Bewusstsein für die Gefahren durch Islamisten ist nach einigen Jahren der Sorglosigkeit zuletzt wieder gewachsen. Die Leute gehen trotzdem auf den Weihnachtsmarkt, was ich für richtig halte, doch sie tun es bewusster angesichts der bestehenden Gefahr.
Werden wir dauerhaft mit hoch gesicherten Weihnachtsmärkten leben müssen?
Wir werden damit leben müssen. Der Trend der letzten Jahre ist klar: Die Gefahr dschihadistischer Anschläge nimmt eher zu als ab. Das zeigen die Entwicklungen weltweit, zuletzt auch in Syrien.