Düsseldorf. Die Generaldebatte im NRW-Landtag zeigte: Ministerpräsident Wüst kann die Probleme des Landes auf Abstand halten. Wie macht er das?

Hendrik Wüst hat wieder das festliche Outfit gewählt: dunkelblaue Dolzer-Maßkonfektion mit roter Krawatte. Wie schon am Samstagabend beim Adventskonzert der Landesregierung in seiner Taufkirche St. Gudula in Rhede. Nur dass der Ministerpräsident da an der Seite seiner Frau und des offensiv gähnenden WDR-Intendanten Tom Buhrow „Oh, Du fröhliche …“ singen durfte. Jetzt muss Wüst im Landtag ans Rednerpult und eigentlich eine andere Tonart anschlagen.

Es ist Mittwochmittag, Generalaussprache des Parlaments zum NRW-Haushalt 2025. Zweieinhalb Stunden lang hat sich Wüst allerlei anhören dürfen. Während er auf der Regierungspark fokussiert mit schwarzem Filzstift Aktenmappe um Aktenmappe traktiert, haut ihm keine fünf Meter entfernt die Opposition beißende Kritik um die Ohren. Kita-Notstand, Unterrichtsausfall, Kahlschlag in der NRW-Industrie, Sozialabbau, Stau-Chaos, steigende Kriminalität, wachsende Schulden. Die Lage des Landes ist schlecht und der Plenarsaal erfüllt von Zwischenrufen, Applaus und höhnischem Gelächter.

Als Wüst an der Reihe ist, kühlt sich die Debattentemperatur augenblicklich ab. Der Ministerpräsident macht keine Anstalten, auf die vorangegangenen Vorwürfe einzugehen. Stattdessen verliest er sein Manuskript mit notarieller Unaufgeregtheit und variiert dabei die Begriffe „Vertrauen“, „Verantwortung“ und „Wertschätzung“. Er zitiert mit beruhigendem Timbre Statistiken, die nach Regierungsfortschritt klingen (Bildungsausgaben gesamt), oft aber das eigentliche Problem (Pro-Kopf-Bildungsausgaben) nur bemänteln.

Wie Rau lässt er Attacken einfach in Watte laufen

Es wird wieder einmal eine Lehrstunde in der „Methode Wüst“. Während in Berlin über „Tünkram“ und „D-Day“ gegiftet wird und sein zerfurchter Parteichef Friedrich Merz („Europa schaut mit blankem Entsetzen auf diese Bundesrepublik Deutschland“) bisweilen den Eindruck erweckt, er müsse demnächst ein Entwicklungsland regieren, hüllt Wüst alles in sedierende Freundlichkeit.

Damit ist er weit gekommen. Selten in ihrer Geschichte standen die NRW-CDU und ihr Ministerpräsident in Umfragen so unangefochten da wie aktuell. Wüst hält die Probleme des Landes gekonnt auf Abstand, gibt sich maximal unideologisch und verkämpft sich für kein Thema. Was man gern unterschätzt, ist seine exzellente Fähigkeit, sich selbst, seine Gegner und erfolgversprechende Machttechniken zu beobachten.

Seine Analyse: In einer Krisenzeit, in der die Leute das Vertrauen in das Sicherheits- und Aufstiegsversprechen des Staates verlieren, darf das politische Personal nicht auch noch durchdrehen. Da Heilsversprechen ohnehin keiner mehr glaubt und Politik nur noch flüchtig konsumiert wird, kommt es darauf an, grob die richtige Richtung einzuschlagen und dem Souverän zumindest nicht auf den Geist zu gehen.

Biografische Prägungen haben bei der Neuerfindung geholfen

Der präsidiale Stil des Ministerpräsidenten macht die NRW-SPD, die das Land über Jahrzehnte beherrschte, schier wahnsinnig. „Was ist besser geworden, seit Schwarz-Grün regiert?“, ruft Oppositionsführer Jochen Ott am Mittwoch im Landtag. Die für ihn ernüchternde Antwort: So lange im Bund gezankt wird und in NRW nicht, ist die schnöde Leistungsbilanz gar nicht Wüsts Bewertungsmaßstab. Es zählt der Eindruck, nicht der Output.

Der Ministerpräsident erinnert dabei ein wenig an Johannes Rau selig, der Attacken ebenfalls virtuos in Watte laufen lassen konnte. In den vergangenen Wochen konnte man auf dem Balkon des SPD-Fraktionsflügels im Landtag Mitarbeiter unter neuen roten Schirmen beim Rauchen zusehen. Der Regenschutz war bedruckt mit dem Slogan „Es wurde Wüst. Jetzt wird gebüßt.“ Gibt es wirklich irgendwo in NRW eine PR-Agentur, die meint, man könnte den „netten Hendrik“ zum Mann sozialer Grausamkeiten stempeln?

Über Stunden ertrug Hendrik Wüst am Mittwoch auf der Regierungsbank heftige Kritik an seinem Haushalt 2025.
Über Stunden ertrug Hendrik Wüst am Mittwoch auf der Regierungsbank heftige Kritik an seinem Haushalt 2025. © dpa | Henning Kaiser

Im Sommer gab sich Wüst beim 50. Geburtstag des SPD-Fraktionschefs Ott in Köln die Ehre. Bei der Ankunft an der Feierlocation wurde der prominente Gratulant vor einem Großbordell fotografiert, das auf der anderen Straßenseite liegt. Die Kölner SPD postete den Schnappschuss später in den sozialen Netzwerken. Als sich die Kölner SPD-Landtagsabgeordnete bei Wüst für diese grobe Unverschämtheit entschuldigte, wollen Umstehende gehört haben, wie der Regierungschef die Peinlichkeit wegblinzelte und sagte: „Alles klar. Aber warum sagen wir eigentlich noch nicht Du zueinander?“

Auch die Grünen haben auf der MS NRW ihren Platz

Zwei biografische Prägungen dürften Wüst geholfen haben, mit Rekordtempo ins „Ministerpräsidenten-Kostüm“ (O-Ton Olaf Scholz) gewachsen zu sein: das Elternhaus und eine politische Nahtoderfahrung. Wüst erzählt häufig von seinem verstorbenen Vater, der Handelsvertreter war und ihn mutmaßlich unbedingte Kundenorientierung gelehrt hat. Die Mutter schärfte ihm die Bedeutung des ersten Eindrucks ein: „Wie Du kommst gegangen, so wirst Du auch empfangen.“

Unterschiedlicher Stil: NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst mit Kanzlerkandidat Friedrich Merz am Samstag bei der Landesvertreterversammlung der NRW-CDU in Essen.
Unterschiedlicher Stil: NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst mit Kanzlerkandidat Friedrich Merz am Samstag bei der Landesvertreterversammlung der NRW-CDU in Essen. © dpa | Thomas Banneyer

Dass sich der Hendrik Wüst des Jahres 2024 keine Schärfe und Kanten mehr gestattet, hängt gewiss auch mit dem Reifeprozess zusammen, der nach seinem Absturz als CDU-Generalsekretär vor fast 15 Jahren eingesetzt hat. Damals musste er als konservativer Krawallo zurücktreten.

Wenn heute CSU-Chef Markus Söder Politik in Stars Wars-Metaphern beschreibt („Wir als Union sind die helle Seite der Macht“), setzt Wüst eher auf das massentaugliche Modell Florian Silbereisen: Irgendwo in der rauen See gibt er den Chefsteward der MS NRW. An Bord lässt er auch den bei vielen in der Union so verhassten Grünen ihren Platz. Die vielzitierte „Geräuschlosigkeit“ der Zusammenarbeit zahlt ohnehin nur weiter bei Wüst ein. Während die grünen Prestigeprojekte (Kohleausstieg 2030, Nationalpark, Flüchtlingspolitik) leider, leider an der Realität zerschellen.

Die „Methode Wüst“ ist gewiss eine Wette auf die Zukunft. Noch will die vom CDU-Politiker immerzu adressierte „Allianz der Mitte“ augenscheinlich den professionellen Interessenausgleich durch einen Schnittmengen-Typen und eine staatliche Repräsentanz, für die man sich zumindest nicht schämen muss. Aber wehe, in Deutschland gewinnen disruptive Tendenzen die Oberhand wie in den USA, wo die Zerstörung von Konventionen und die Verachtung von Autoritäten salonfähig geworden ist.