Düsseldorf. Im Skandal um die Besetzung der OVG-Spitze mit einer Bekannten des NRW-Justizministers legen neue Mails politische Einflussnahme nahe.
Im Skandal um die rechtswidrige Besetzung des Präsidentenamtes beim nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgericht (OVG) mit einer Duz-Bekanntschaft von Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) sind neue belastende Dokumente aufgetaucht.
Wie der Untersuchungsausschuss des Landtags am Montag in stundenlangen Vernehmungen rekonstruiert hat, legen interne E-Mails aus dem Herbst 2022 eine politische Einflussnahme auf das inzwischen gestoppte Besetzungsverfahren endgültig nahe. „Hier scheint so lange gebastelt worden zu sein, bis das Ergebnis das gewünschte war“, erklärte SPD-Obfrau Nadja Lüders.
Die OVG-Affäre in NRW sorgt seit Monaten bundesweit für Aufsehen in der Justiz. Nach dem Regierungswechsel 2022 war die Limbach-Favoritin nachträglich ins Bewerbungsverfahren für das Präsidentenamt beim höchsten Verwaltungsgericht aufgenommen worden. Sie hatte dem neuen Minister ihr Interesse an der Stelle bei einem privaten Abendessen signalisiert. Beide lernten sich einst als junge Richterkollegen kennen. Limbachs Ehefrau und die Kandidatin waren zudem gleichzeitig Referendarinnen am Landgericht Bonn. Es bestehe aber „kein Näheverhältnis“ hatte der Minister stets betont.
Nach Eingang der Bewerbung Mitte September 2022 wurde im Justizministerium Anfang Oktober in einem „adA-Vermerk“ („außerhalb der Akten“) geprüft, ob Limbachs Bekannte, die inzwischen als Abteilungsleiterin für Digitalisierung im NRW-Innenministerium arbeitet, überhaupt noch ins eigentlich abgeschlossene Besetzungsverfahren aufgenommen werden darf und ob sie an die Spitze der Besetzungsliste gelangen könnte.
In Nordrhein-Westfalen müssen Präsidentenstellen an Obergerichten nach einer strengen Bestenauslese vergeben werden, damit die Unabhängigkeit der Staatsgewalten gewahrt bleibt und sich eine Landesregierung keine „genehme“ Gerichtsbarkeit schaffen kann. Die Fachabteilung des Justizministeriums muss anhand von Dienstbeurteilungen einen objektiven Besetzungsvorschlag erarbeiten, der dann vom Justizminister ins Landeskabinett eingebracht wird.
Unklar ist bis heute, warum die Chancen der Limbach-Favoritin noch vor Eingang ihrer Dienstbeurteilung überhaupt intern geprüft werden sollten. Dies sei „einfach so ein Zwischenvermerk“ gewesen, erklärte die zuständige Referatsleiterin am Montag im Zeugenstand des Untersuchungsausschusses. Sie verschickte das Dokument kurz vor ihrem Frankreich-Herbsturlaub am 7. Oktober 2022 an den verantwortlichen Personalabteilungsleiter im Justizministerium, versehen mit dem Hinweis: „Ich hoffe, Du hattest Dir so etwas in der Art vorgestellt…“
Allerdings kam die Fachfrau in ihrem Vermerk zu der Einschätzung, dass die Limbach-Favoritin kaum an zwei anderen Bewerbern vorbeikommen könne. Schließlich hatte sie seit 2011 nicht mehr in der Justiz gearbeitet und mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit über etliche Jahre gar nichts zu tun gehabt. Ein Abteilungsleiter des Justizministeriums, der eigentlich von Limbachs Amtsvorgänger Peter Biesenbach (CDU) kurz vor der Landtagswahl im Mai 2022 für das OVG-Präsidentenamt vorgeschlagen worden war, verfügte über größere Richter- und Verwaltungserfahrung. Ein Bundesrichter, der sich ebenfalls beworben hatte, konnte zudem die bei weitem höhere Rechtssprechungskompetenz aufweisen.
In dem internen Vermerk wird überraschenderweise auch schon die IT-Kompetenz der Limbach-Favoritin als mögliches Alleinstellungsmerkmal abgewogen: „Selbst die besondere Expertise von Frau (…) im Bereich der – sicher auch für den Geschäftsbereich des OVG sehr wichtigen – Digitalisierung dürfte diese Vorsprünge nicht ausgleichen.“ In der Ausschreibung der Präsidentenstelle und im bisherigen Bewerbungsverfahren hatte die Frage der Digitalisierung in der Verwaltungsgerichtsbarkeit kaum eine Rolle gespielt.
Wurden Konkurrenten der Minister-Favoritin bearbeitet?
In einer ersten Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss vor acht Wochen hatten die Referatsleiterin und ihr Abteilungsleiter den brisanten Vermerk zur „ersten kursorischen Bewertung“ kleingeredet. Am Montag kam nun heraus, dass der Abteilungsleiter nachbessern ließ. Am 10. November 2022 bat er in einer Mail seine Kollegin, der Vermerk solle den Umstand „kurz würdigen“, dass die Limbach-Vertraute im Innenministerium eine Digitalisierungsabteilung „neu aufgebaut“ habe.
Die Referatsleiterin arbeitete diese Zusatzwürdigung ein, blieb jedoch bei ihrer Einschätzung, dass an den beiden Konkurrenten mutmaßlich kein Vorbeikommen sei - und rechnete dabei sogar von Beginn an Bestnoten in sämtlichen Kategorien aus dem Innenministerium für die Limbach-Favoritin ein. Das hatte zu diesem Zeitpunkt aber noch gar keine Dienstbeurteilung abgegeben. Dem Minister wurde diese Gesamteinschätzung, die zunächst keinen Weg für seine Bekannte an die OVG-Spitze wahrscheinlich erscheinen ließ, bei einer Besprechung am 11. November 2022 um 10 Uhr mitgeteilt.
Drei Stunden später kam es zu einem brisanten „Bewerbungsgespräch“ zwischen dem Minister und dem ebenfalls an dem Job interessierten Bundesrichter. Dieser hat später in einer Eidesstattlichen Versicherung dargestellt, wie er damals von einer Bewerbung abgebracht werden sollte. Limbach habe ihm eröffnet, er sehe „einen Vorsprung“ bei der nachträglich ins Bewerbungsverfahren aufgenommenen Kandidatin. „Der Minister deutete auch an, dass man über eine Kompensation für mein Wohlwollen nachdenken könne“, heißt es in dem Dokument weiter.
Limbach bestreitet diese Darstellung des Gesprächsverlaufs. Er habe den Bundesrichter „über die eingegangene weitere Bewerbung unterrichtet und ihn gebeten, vor dem Hintergrund der gesamten Bewerberlage zu prüfen, ob er seine Bewerbung aufrechterhält“, hatte der Minister im November 2023 gegenüber unserer Redaktion zu Recherchen über diverse Geheimgespräche erklärt.
Unbestritten ist, dass der Minister drei Tage später auch seinen Abteilungsleiter, der eigentlich OVG-Präsident werden sollte, gebeten hat, seinerseits die Bewerbung zurückzuziehen. Angeblich war der Mann, der inzwischen kurz vor der Pensionierung steht, auf seinem Ministeriumsposten unentbehrlich. Wieder vier Tage später kam es zu einem Gespräch zwischen dem einflussreichen Staatskanzleichef Nathanael Liminski (CDU), der in diesem Stadium des Verfahrens gar nicht hätte damit befasst sein dürfen, und dem Bundesrichter. Dabei soll sich der Eindruck verfestigt haben, CDU und Grüne hätten sich auf die Limbach-Kollegin festgelegt – angeblich, weil die Grünen eine Frau an der Gerichtsspitze wünschten und die Schwarzen jemanden mit CDU-Parteibuch.
Innerhalb von sechs Wochen drehte sich die Ersteinschätzung des Ministeriums
Weder der Bundesrichter noch der Abteilungsleiter aus dem Justizministerium ließen sich aber von ihrer Bewerbung abbringen. Die Referatsleiterin im Justizministerium machte sich also an die Arbeit, ihren Besetzungsvermerk „auszuschärfen“ und lieferte am 26. Januar 2023 das gegenteilige Ergebnis ihrer ursprünglichen Einschätzung sechs Wochen zuvor: „Frau (…) erfüllt das Anforderungsprofil für das angestrebte Amt in hervorragender Weise. Ihren Mitbewerbern geht sie aufgrund eines Qualifikationsvorsprungs in Bezug auf Eignung für das angestrebte Amt vor, der sich bei einer inhaltlichen Ausschöpfung der dienstlichen Beurteilungen ergibt.“
Inzwischen waren die antizipierten Top-Noten der Limbach-Favoritin in allen Bereichen tatsächlich eingegangen. „Ansonsten wäre der Leistungsvergleich schnell zu Ende gewesen“, räumte die Referatsleiterin in ihrer Vernehmung am Montag ein. Die Opposition im Landtag spricht von „Bestnoten auf Bestellung“. Die Endfassung des neuen Besetzungsvorschlags wurde am 3. Februar 2023 an Limbach und seine Staatssekretärin gemailt. Erstaunlich: Innerhalb von sechs Wochen wurde die ursprüngliche ernüchternde Job-Perspektive für die Limbach-Favoritin komplett gedreht. Der nordrhein-westfälische Richterpräsidialrat - eine Art Personalvertretung, die solche Personalien absegnen muss - gab seine Zustimmung am 5. Juni 2023 nur mit „erheblichem Befremden“. Die richterliche Vorerfahrung der Limbach-Favoritin für ein solch herausragendes Amt in der Justiz erschien dem Kollegium doch arg dürftig.
Einen Tag später, einem Samstagmorgen um 9:46 Uhr, sandte der Abteilungsleiter eine E-Mail an seine Referatsleiterin, die relativ neu auf ihrem Posten war und zum ersten Mal überhaupt ein Besetzungsvotum für eine so wichtige Gerichtspräsidentenstelle erstellen musste: „Minister und Staatssekretärin haben sich gestern sehr zufrieden über den Entwurf geäußert.“ Er fügte einen Zwinker-Smiley hinzu. Für die Opposition im Landtag ein weiterer Hinweis, dass es sich um ein politisch abgekartetes Spiel handelte.
Topnoten für Minister-Bekannte an Beurteilungsrichtlinien vorbei
Inzwischen ist das Besetzungsverfahren dennoch in sich zusammengebrochen. Die Bestnoten der Limbach-Favoritin aus dem Innenministerium haben sich als rechtswidrig erwiesen. Das Justizministerium musste das Prozedere Mitte November in einem beispiellosen Vorgang stoppen. Der Untersuchungsausschuss des Landtags hatte zuvor aufgedeckt, dass Innen-Staatssekretärin Daniela Lesmeister (CDU) die Spitzenbeurteilung an den Beurteilungsrichtlinien des Landes vorbei erstellt hatte. Sie hätte ihren Amtsvorgänger Jürgen Mathies (parteilos) um einen Beurteilungsbeitrag bitten müssen, weil der längere Zeit Chef der Limbach-Favoritin im Innenministerium war. Das war nicht geschehen.
Damit ist auch ein langwieriges Klageverfahren beim OVG selbst eingestellt worden. Die ausgebooteten Konkurrenten hatten erfolgreich geklagt. Am Ende hatte sogar das Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil verlangt, dass in NRW der Vorwurf einer politischen Vorfestlegung noch einmal ordentlich geprüft werden müsse.
Limbach will nun Anfang 2025 auf Basis neuer Dienstbeurteilungen der bisherigen Bewerber einen neuen Besetzungsvorschlag erarbeiten lassen. Die bisher dafür zuständige Referatsleiterin hat Anfang Oktober überraschend ihren Posten verlassen. Sie hat sich in einer beruflichen Seitwärtsbewegung auf eine andere Referatsleitung im Justizministerium beworben und nun mit dem Reparaturversuch des verkorksten Verfahrens nichts mehr zu tun. In Limbachs Umfeld wird betont, dass die Neuorientierung nichts mit ihren ursprünglichen Zweifeln in dem OVG-Besetzungsverfahren zu tun habe und es sich bei dem neuen Referat im Übrigen um ein besonders prestigeträchtiges handele. Das wird in Justiz-Kreisen deutlich anders gesehen.
Das Oberverwaltungsgericht ist inzwischen seit mehreren Jahren ohne Führung. Der Minister sieht einen „beachtlichen Fehler“ allein in der rechtswidrigen Beurteilung des Innenministeriums. Seine Fachbeamten dagegen, allesamt Spitzenjuristen, betonten im Untersuchungsausschuss, sie hätten die Korrektheit der Noten aus dem Innenministerium nicht geprüft. Dies sei nicht üblich. Aber richtig sei auch: „Ein schriftliches Verbot, Dienstbeurteilungen zu prüfen, gibt es nicht.“
Früherer OVG-Präsident: „Minister hat Justiz zum Gespött gemacht“
Der Justizminister lehnt persönliche Konsequenzen weiter ab. Selbst in der schwarz-grünen Koalition wird zwar über das Verfahrensdebakel nur noch der Kopf geschüttelt und kaum mehr nennenswerte politische Verteidigung für Limbach organisiert, aber offen abrücken will niemand. Als einziges eigenes Versäumnis mag der Minister bislang eingestehen, dass er seiner Bekannten im Sommer 2022 beim Abendessen nicht sofort Einhalt geboten habe, als diese auf das OVG-Präsidentenamt zu sprechen kam. Den Vorwurf einer „manipulativen“ Verfahrensgestaltung, den auch das Verwaltungsgericht Münster in einem erstinstanzlichen Urteil erhoben hatte, weist der Grüne entschieden zurück. Die Bestnoten auf Bestellung nennt er „eine Erfindung der Opposition“.
Sollte im neuen Jahr wieder die Limbach-Favoritin auf Platz eins der Besetzungsliste stehen, geht die juristische Hängepartie vermutlich weiter. Der ausgebootete Bundesrichter könnte erneut nach Karlsruhe ziehen, weil die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte gerichtliche Prüfung einer unzulässigen politischen Vorfestlegung ja bis heute nicht erfolgt ist. Die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses wären dabei sogar gerichtsverwertbar. Es wird in Düsseldorf inzwischen auch über einen gesichtswahrenden Ausweg für den Minister spekuliert: Eine über jeden Zweifel erhabene Richterin könnte zur nachträglichen Bewerbung ermuntert werden, die dann rechtmäßig als neuer Besetzungsvorschlag ins Kabinett eingebracht würde.
Der frühere OVG-Präsident Michael Bertrams fordert inzwischen offen den Rücktritt des Justizministers. In einem Beitrag für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ schrieb der Top-Jurist, der auch fast 20 Jahre lang Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofs war, vor einigen Tagen: „Durch sein kläglich gescheitertes Besetzungsverfahren hat Limbach die nordrhein-westfälische Justiz in Misskredit gebracht und sie – wie sich selbst – dem öffentlichen Gespött preisgegeben.“