Cherson. Isoliert und traumatisiert im Wahnsinn des Krieges – im Keller eines alten Wohnblocks in Cherson finden Kinder ein bisschen Normalität.
Am Morgen hat eine russische Drohne einen Sprengkörper über einem Linienbus ausgeklinkt. Drei Menschen starben. Am Tag zuvor waren zwei Menschen bei einem Drohnenangriff ums Leben gekommen. Das Leben im Dniprovskyi-Distrikt in Cherson ist gefährlich. Wer sein Haus verlässt, kann zum Ziel werden. Die russischen Streitkräfte am anderen Ufer des Flusses unterscheiden nicht zwischen Militärs und Zivilisten. Für die Kinder, die noch in der Stadt sind, ist es die Hölle. Ihre Kindheit verbringen sie in sozialer Isolation und Furcht. Im Keller eines in die Jahre gekommenen Wohnblocks können sie aber wenigstens für einige Stunden den Krieg vergessen.
Cherson im Süden der Ukraine war die einzige Regionalhauptstadt, die die Russen nach der Invasion im Februar 2022 einnehmen konnten. Monatelang mussten die Menschen die russische Besatzung ertragen. Im November des gleichen Jahres wurde die Stadt befreit. Der Schrecken aber ist nicht vorbei. Die russischen Streitkräfte liegen auf der anderen Seite des Dnepr. Immer wieder fliegen Granaten, Raketen und Bomben in die Stadt. Drohnen werfen ihre tödliche Last ab, Scharfschützen schießen auf Menschen, die sich zu nah ans Ufer trauen. Seit der Befreiung sollen in Cherson etwa 400 Zivilisten durch russischen Beschuss getötet worden sein.
An diesem Tag ist der Himmel über der Stadt bleiern-grau. Es ist kalt geworden. In einem Wohnquartier des Dniprovskyi-Distrikts fegen einige städtische Mitarbeiter lustlos Laub zusammen. In eines der mehrstöckigen Wohnhäuser führt eine Metalltür hinein, von der der grüne Lack abblättert. Über ein Dutzend steile Stufen geht es in den Keller. Unten stehen vor einem Durchgang Schuhe, große und kleine, es ist fröhliches Kinderlachen zu hören.
Ein bisschen Normalität für Kinder und Jugendliche im Wahnsinn des Krieges
„Willkommen in unserem sicheren Rückzugsort“, sagt Tetyana Mykhaylovska. Sie ist die Leiterin der Einrichtung. Es ist warm. Auf dem Boden liegen bunte Teppiche, an der Decke hängt Weihnachtsdekoration. Eine Friedenstaube ist an eine Wand geklebt, an einer anderen hängt ein Aufklärungsposter, auf dem verschiedene Typen von Minen und Sprengkörpern zu sehen sind. Die Wände sind dick genug, um nahe Bombeneinschläge auszuhalten. Kinder rennen jauchzend auf Socken durch die Räume, an einem großen Tisch sitzen andere und basteln konzentriert.
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Mykhaylovska setzt sich im Schneidersitz auf ein buntes Sitzkissen in einem der Räume. In den vergangenen drei Tagen war der Distrikt wieder einmal von der Zivilisation abgeschnitten, erzählt sie. Die Menschen hatten keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung, kein Internet. „Hier sind wir zum Glück unabhängig davon, wir haben eine eigene Stromversorgung.“ Deswegen waren in den vergangenen Tagen nicht nur wie üblich die Kinder hier, sondern auch Bewohner des Hauses, um sich aufzuwärmen und um etwas Heißes zu trinken. Auch für sie ist es ein sicherer Hafen.
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Vor allem aber sollen Kinder und Jugendliche hier ein bisschen Normalität im Wahnsinn des Krieges erfahren können. Etwa 400 Minderjährige leben noch im Distrikt, schätzt Mykhaylovska, in der gesamten Stadt dürften es bis zu 6000 sein. „Die Situation für sie hier ist schlimm, ihre Kindheit ist ihnen gestohlen worden.“ Schulen und Kindergärten sind in der Stadt geschlossen, manche der Gebäude zerstört. Der Distanzunterricht ist nicht immer möglich. Draußen zu spielen ist wegen des ständigen Beschusses viel zu gefährlich. Den Kindern fehlt seit Jahren der Kontakt zu Gleichaltrigen. „Psychologisch ist das für die Kinder sehr schwierig.“
Was der achtjährige Dasha sich zu Weihnachten wünscht? „Dass der Krieg beendet wird“
Ein Großteil der früher etwa 280.000 Einwohner von Cherson hat die Stadt verlassen. Seit die Regierung Mittel für die Binnenflüchtlinge gestrichen hat, können es sich viele Menschen aber schlicht nicht leisten zu gehen. Sie bleiben, trotz der Gefahr. Also sucht Mykhaylovska in ihrem Distrikt immer wieder Familien auf und erzählt von dem sicheren Raum, der vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) und von einer lokalen Hilfsorganisation namens „Erfolgreiche Frauen“ ins Leben gerufen worden ist.
Anastasia daddelt auf ihrem Mobiltelefon und fläzt sich im grauen Jogginganzug lässig auf ein Sofa. Die Elfjährige ist fast jeden Tag hier, erzählt sie. „Zu Hause ist es langweilig, hier kann ich mich mit Freunden treffen.“ Das Leben im Distrikt sei manchmal erschreckend. „Sie bombardieren ja jeden Tag. Aber ich habe mich daran gewöhnt.“
Dasha, 8, sagt mit ernster Miene, sie komme hierher, wenn sie Zeit habe. Die hat sie deswegen nicht immer, weil sie für die Schule lernen muss, sie wolle ja Designerin werden, und vor allem, weil sie viel male. „Das Schönste ist, wenn man etwas Ungewöhnliches malt, etwas, was es nur im Kopf gibt.“ Aber hier habe sie Spaß mit ihren Freunden. Yaroslav, 6, hat sich in eine Spielburg verkrochen. „Hier sind tolle Leute, die Kinder und die Mitarbeiter und hier gibt es viel Platz zum Spielen.“ Was er sich zu Weihnachten wünsche? „Dass der Krieg beendet wird.“
Unicef: Mindestens 659 Kinder sind im Ukraine-Krieg bereits gestorben
Am Basteltisch sitzt Oleysa, Mitte dreißig, mit ihrer sechsjährigen Tochter und hilft ihr und anderen Kindern dabei, Weihnachtsdekoration auszuschneiden. Ihre Kleine habe neurologische Probleme gehabt, sie habe Hilfe für sie gesucht und sei auf die Einrichtung gestoßen. „Dieser Ort ist ein Rettungsanker. Hier können sich die Kinder ausruhen und erholen. Es wäre unmöglich, ohne ihn emotional zu überleben.“ Auch für sie als Mutter sei es wichtig hierherzukommen, sich mit anderen Eltern auszutauschen, über Ängste und Sorgen zu reden. „Das ist unser Kraftort.“
Maria Sotska arbeitet regelmäßig mit den Eltern. Sie ist die Psychologin des Teams. „Ich erkläre ihnen, wie sich verhalten sollten.“ Ruhig bleiben, die Situation, so wie sie ist, akzeptieren, das sei wichtig, um die Kinder emotional zu stabilisieren. „Eigentlich gewöhnen sich Kinder schnell auch an extreme Situationen“, sagt sie. Zeigen die Eltern aber Verzweiflung, Angst, Trauer, Wut, könne das für die Kleinen verstörend sein. „Aber natürlich haben die Kinder auch Angst vor den Bomben und davor, ihre Eltern zu verlieren.“ Die Psychologin schätzt, dass etwa ein Drittel der Kinder schwere und behandlungsbedürftige Traumatisierungen erlitten hat.
Nach Angaben von Unicef sind im Ukraine-Krieg bislang mindestens 659 Kinder getötet worden. Viele verbrächten immer wieder bange Stunden in Schutzkellern, häufig mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden. „Ohne anhaltende und verstärkte Unterstützung für Kinder werden die psychischen Wunden dieses Krieges womöglich über Generationen hinweg nachhallen“, so eine Sprecherin des Kinderhilfswerks. Die Bildung, die Zukunftschancen und das soziale Miteinander einer ganzen Generation Kinder seien in Gefahr.
Mutter Oleysa steigen die Tränen in die Augen, als sie sich daran erinnert, was ihre sechsjährige Tochter zu ihr gesagt hat: „Mama, ich kann mich nicht mehr an die Zeit erinnern, in der es ruhig, still und fröhlich war.“