Düsseldorf/Gütersloh. Mitten in den Streit um die neue Kita-Personalverordnung in NRW platzt eine Bertelsmann-Studie mit brisantem Inhalt.
Bundesweit geht laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung in immer mehr Kitas der Anteil der Mitarbeitenden zurück, die mindestens über eine Qualifikation als Erzieherin oder Erzieher verfügen. Weil in vielen Einrichtungen das Personal fehle, würden immer mehr Personen ohne die formalen pädagogischen Voraussetzungen eingestellt, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Was der Notsituation geschuldet sei, drohe in mehreren Bundesländern, darunter NRW, zu einer „dauerhaften Praxis“ zu werden. Das geht aus dem so genannten „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ sowie einer neuen Befragung von Kita-Fachkräften hervor.
Nur noch eine Erzieherin für 60 Kinder plus fünf Ergänzungskräfte in Notsituationen
Diese Nachricht dürfte in Nordrhein-Westfalen nachhallen, denn hier tobt seit Tagen in heftiger Streit über die geplanten neuen Personalvorschriften für Kitas. Die schwarz-grüne Landesregierung hat eine Lockerung der Personalvorschriften für Kita-Gruppen mit über Dreijährigen angekündigt. Damit will man auf die zuletzt gestiegenen Meldungen von Notbetreuung und Gruppenschließungen reagieren. Kitas sollen künftig bei Krankheitsausfällen auch dann geöffnet bleiben dürfen, wenn nur noch eine pädagogische Fachkraft für 60 Kinder da ist. Bislang sind zwei Erzieherinnen pro 20-köpfiger Ü3-Gruppe vorgeschrieben. Mit der neuen Regel würde es reichen, wenn Ergänzungskräfte wie Kinderpfleger, Sozialassistenten oder Heilerziehungshelfer einspringen. Unter diesen Not-Bedingungen sollen Kitas einmal im Jahr für höchstens sechs Wochen arbeiten dürfen.
Das „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ scheint nun jenen Argumente zu liefern, die in der neuen Personalverordnung in NRW eine Belastung für die frühkindliche Bildung erkennen. Gegen die Pläne laufen mehrere Online-Petitionen. Es gibt aber auch Zustimmung, zum Beispiel von den Kita-Trägern aus der Freien Wohlfahrtspflege und vom Landeselternbeirat NRW.
In der Kita-Länder-Rangliste fällt NRW durch einen besonders starken Rückgang auf
Die Bertelsmann Stiftung stellt fest: „Während im Jahr 2017 bundesweit in 41 Prozent aller Kita-Teams mehr als acht von zehn pädagogisch Tätigen mindestens einen einschlägigen Fachschulabschluss aufwiesen, traf das 2023 nur noch auf rund jedes dritte Kita-Team zu (32 Prozent).“ Dieser Rückgang sei in 13 Bundesländern zu verzeichnen. Am deutlichsten falle er in Berlin (18 Prozentpunkte), Mecklenburg-Vorpommern (15 Prozentpunkte) und Nordrhein-Westfalen (14 Prozentpunkte) aus.
„Grundsätzlich ist es gut, wenn die Kitas neue und vor allem motivierte Mitarbeitende gewinnen. Aber für die anspruchsvolle Arbeit mit den Kindern benötigen sie eine ausreichende pädagogische Qualifikation. Aufgrund des Platz- und Personalmangels mag es in einer Notsituation vertretbar sein, die Anforderungen vorübergehend zu senken, um die Schließung einer Kita abzuwenden. Das darf aber nicht zu einem dauerhaften Absenken der Fachkraft-Quote führen – doch genau diese Tendenz sehen wir momentan in mehreren Bundesländern“, sagte Anette Stein, Expertin der Bertelsmann Stiftung für frühkindliche Bildung.
Täglich überlastet
Die Befragungsergebnisse zeigen nach Einschätzung der Bertelsmann Stiftung, dass das KiTa-Personal sich selbst nicht nur als hoch belastet einstuft. Der Großteil der Beschäftigten sei zudem auch regelmäßig – viele von ihnen sogar täglich – mit Überlastungserleben konfrontiert. Diese Selbstbeschreibung spiegele sich auch in höheren Krankenständen pädagogisch Beschäftigter im Vergleich zu anderen Berufsgruppen wider, die insbesondere auch durch psychische Erkrankungen verursacht werden. Die Abwanderungsbereitschaft des pädagogischen Personals steige mit zunehmender Überlastungshäufigkeit stark an.
Insgesamt hätten 21.635 in Kitas pädagogisch Tätige an der Befragung im vergangenen Jahr teilgenommen, so die Stiftung.
NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) hat wiederholt betont, dass die neue Personalverordnung nur in Notfällen greife und keineswegs als Dauerlösung anzusehen sei.
Furcht vor einem dauerhaften Absenken der Fachkraft-Präsenz
Die Zahlen aus dem „Ländermonitoring“ sind dennoch besorgniserregend: Eine hohe Fachkraft-Quote, bei der mehr als acht von zehn pädagogisch Tätigen über mindestens einen einschlägigen Fachschulabschluss verfügen, gab es demnach 2023 in NRW nur in fast jedem dritten Kita-Team (31 Prozent). Im Jahr 2017 traf dies noch auf fast jedes zweite Kita-Team in dem Bundesland zu (45 Prozent). Zugleich soll der Anteil an Kita-Teams in NRW, in denen nur 50 bis unter 70 Prozent des pädagogischen Personals als Fachkraft qualifiziert sind, von 20 Prozent im Jahr 2017 auf 30 Prozent in 2023 gestiegen sein.
„Auch in NRW versucht man, den Platz- und Personalmangel in den Kitas durch den Einsatz von Mitarbeitenden aufzufangen, die für ihre Arbeit mit den Kindern nicht die formalen pädagogischen Voraussetzungen mitbringen. Das darf aber nicht zu einem dauerhaften Absenken der Fachkraft-Quote führen – doch genau diese Tendenz sehen wir momentan in NRW“, sagte Kathrin Bock-Famulla von der Bertelsmann Stiftung.
Freier Kita-Träger: „Notstands-Politik der NRW-Landesregierung“
Stefan Spieker, Geschäftsführer des freien Kita-Trägers „Fröbel“ mit 80 Kindertageseinrichtungen in NRW erhebt unter dem Eindruck der neuen Zahlen Vorwürfe gegen die Landesregierung: „ Der aktuelle Kurs in NRW - Stichwort neue Personalverordnung - ist fatal, denn er ist der Notstands-Politik der Landesregierung geschuldet. Es darf nicht passieren, dass ungelernte Ergänzungskräfte oder Quereinsteiger, die nicht die formalen Voraussetzungen erfüllen, den Fachkraftmangel dauerhaft kompensieren“, schreibt Spieker in einer Mitteilung. Zentrale Aufgaben von Kitas wie Sprachförderung und Entwicklungsdokumentation kämen dann zu kurz, und den verbleibenden Fachkräften werde die Arbeit noch schwerer gemacht. „Es steht zu befürchten, dass viele hoch qualifizierte aber ausgebrannte Menschen aus ihrem Beruf aussteigen“, warnte er.