Düsseldorf. Die Clankriminalität in NRW hat wohl durch verstärkten Kontrolldruck einen Höchststand erreicht. Aber was ist mit neuen Akteuren?

Als es im vergangenen Jahr in Essen und im Kreis Recklinghausen zu bundesweit beachteten Tumulten zwischen türkisch-arabischen Großfamilien mit Baseballschlägern, Messern und Äxten kam, lief vieles so ab, wie es erfahrene Ermittler schon lange kennen: Dutzende Beteiligte, etliche Verletzte, null Aussagebereitschaft.

Wenn Geschädigte schweigen, lässt sich ein Tatverdacht kaum erhärten. Nicht selten wird ein solcher Fall irgendwo in einem Essener Café gelöst, unter Moderation eines „Friedensrichters“. Dessen Vorgaben basierten „auf einem eigenen Werte- und Normensystem“, heißt es im neuen „Lagebild Clankriminalität“ des Landeskriminalamts, das am Donnerstag in Düsseldorf vorgestellt wurde. Der Stammesälteste gibt vor, wie durch Kompensationszahlungen die Reputation der Konfliktparteien wiederhergestellt werden kann. Der Staat bleibt außen vor.

Tumulte der Clans haben laut NRW-Innenminister spürbar abgenommen

Bis 2018 seien solche Tumultlagen „fast an der Tagesordnung“ gewesen, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). „Ganze Straßenzüge wurden von Clans belagert, Menschen bedroht, betrogen, beraubt. Und gerade im Ruhrgebiet hatten viele Menschen das Gefühl, die Clans beherrschen die Straße.“ Seither hätten solche Massenschlägereien abgenommen, es habe sich etwas verändert, betont der Minister: „Die Straße gehört wieder uns.“

Insgesamt bewegt sich die Clankriminalität in NRW dennoch mit 7000 registrierten Straftaten und mehr als 4200 Tatverdächtigen auf Rekordniveau, weshalb der Minister Zweifel an seiner „Strategie der Nadelstiche“ und einem Mix aus Prävention/Repression/Sicherheitskooperation abwettern muss: „Probleme, die in Jahrzehnten gewachsen sind, kann man nicht in wenigen Jahren wegradieren.“

Die SPD-Opposition im Landtag hält Reul dagegen vor, „keine nachhaltigen Erfolge bei der Bekämpfung dieses Kriminalitätsphänomens“ verkünden zu können, wie es Innenexpertin Christina Kampmann formuliert. Es reiche nicht aus, den Clans mit Razzien „auf den Zeiger“ zu gehen, solange die Kriminalpolizei nicht für wirksame „Strukturermittlungen“ ausgestattet sei.

Reul nimmt dagegen für sich in Anspruch, seit 2018 überhaupt erst einen ganzheitlichen Ansatz entwickelt zu haben. Das LKA ordnet seither sämtliche Delikte von Alltagsstraftaten bis zur Organisierten Kriminalität einer Liste von polizeibekannten Familiennamen zu, die Bezüge zur Bevölkerungsgruppe der Mhallamiye oder zum Libanon haben. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass sich seit dem Libanon-Krieg der 80er Jahre unter den damaligen Flüchtlingen insbesondere im Ruhrgebiet hochkriminelle Strukturen verfestigt haben.

„Einschaltschwelle“ von Streifenbeamten gegen Clans ist niedriger geworden

Mit Hunderten Razzien – im vergangenen Jahr waren es 423 – werden die Kreise der Clans in Shisha-Bars, Spielhallen oder einschlägigen Cafés gestört. Außerdem sei die „Einschaltschwelle“ auf der Straße in den vergangenen Jahren deutlich gesunken, sagt LKA-Projektleiter Achim Schmitz: „Die Sensibilität der eingesetzten Kolleginnen und Kollegen ganz normal im Streifenwagen außerhalb von Großeinsätzen führt dazu, dass viel intensiver solchen Sachverhalten nachgegangen wird.“

Parallel soll den Clans über aufwendige Ermittlungen durch Spezialisten für Organisierte Kriminalität (OK) zugesetzt werden. Schnelle Erfolge sind hier kaum zu erzielen. Die durchschnittliche Dauer eines OK-Verfahrens betrage 30 Monate, rechnet Reul vor. Seit 2018 habe man etwa 40 Verfahren im Bereich der Organisierten Clan-Kriminalität geführt: „Wir wollen den Clans ihr Geld wegnehmen, denn da tut es ihnen besonders weh.“

Sorge bereitet dem LKA, dass im vergangenen Jahr bei Tumulten im Ruhrgebiet auch Syrer und Iraker mitmischten. Seither wurde das „Projekt Euphrat“ gestartet, um deren familiäre Verpflechtungen in NRW aufzuhellen. Gibt es auch bei ihnen eine hierarchische Struktur, das ausgeprägte Zugehörigkeitsgefühl und ein eigenes Normen- und Werteverständnis? „Wichtig ist mir, dass wir das frühzeitig erkennen. Wenn sich Strukturen nämlich mal gefestigt haben, wenn kriminelle Banden jahrelang unbehelligt schalten und walten können, dann wird es extrem schwer, dagegen vorzugehen“, sagt Reul.

Syrer und Iraker seien durch „hohe, kriminelle Energie auffallen“, aber es ist unklar, ob sich auch vergleichbare Clanstrukturen wie bei den bekannten türkisch-libanesischen Großfamilien etablieren. Allein die Zahl der syrischen Tatverdächtigen hat sich zwischen 2015 und 2023 mehr als vervierfacht, allerdings ist ihr Bevölkerungsanteil durch die Flüchtlingswelle 2015 auch stark angewachsen.

Es gebe Auseinandersetzungen zwischen türkisch-libanesischen und syrischen Staatsangehörigen „auch auf offener Straße, das ist nicht zu verhehlen“, räumt LKA-Mann Schmitz ein. Nur: „Worin genau dieses Konfliktpotenzial besteht, das ist eine sehr spannende Frage, mit der setzen wir uns gerade aktuell auseinander.“

Politische Rückendeckung bekommen die Ermittler von Reul, der sogar seit 2022 Dauerkritik seines neuen grünen Koalitionspartners am namensbasierten Ermittlungsansatz aussitzt. Der angeblich stigmatisierende Begriff „Clankriminalität“ ist bislang erhalten geblieben. „Wir arbeiten mit der Definition, die in der Polizei bundesweit verabredet ist“, stellt Reul am Donnerstag klar.

Es gebe mit den Grünen „noch keinen Konsens, was das inhaltlich meint“, so der Minister. Dass 118 türkisch-arabischstämmige Familiennamen zum Ausgangspunkt für die Durchleuchtung abgeschotteter Kriminalitätsstrukturen genommen werden, wollen die Grünen weiterhin nicht akzeptieren. „Die Grundlage für erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung sind valide Daten“, sagt deren Innenexpertin Julia Höller. „Wir haben im Koalitionsvertrag daher die Weiterentwicklung des Lagebilds über einen allein namensbasierten Ansatz hinaus vereinbart, um Unschärfen zu beseitigen.“