Berlin. Kevin Kühnert tritt vorerst aus der Politik ab. Dabei betrifft Krankheit durch Arbeit viele Menschen in Deutschland. Was ein Experte rät.
Als der deutsch-amerikanische Psychologe Herbert J. Freudenberger seinen wegweisenden Aufsatz „Staff Burn-out“ veröffentlichte, begann in Deutschland gerade die Regierungszeit von Helmut Schmidt. Der Kanzler übernahm 1974 die Geschäfte, er war da Mitte 50. Schmidt hatte damals schon gemerkt, wie ihm das Leben als Politiker gesundheitlich zusetzt. Viele Jahre später berichtet Schmidt in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ darüber, wie er immer wieder bewusstlos wurde. „Meistens nur wenige Sekunden, manchmal aber auch Minuten.“
Burn-out und Depression: Hier finden Sie professionelle Hilfe in schwierigen Lebenssituationen
Schmidt erzählt: „Ich bin wahrscheinlich an die hundert Mal besinnungslos vorgefunden worden.“ Schwächeanfälle. Sein Team habe das „mit Erfolg verheimlicht“. Das alles habe ihn nicht daran gehindert, seine „Pflicht als Regierungschef zu tun“.
Auch der Psychologe Freudenberger hatte zu kämpfen. Woran er litt, nannten er und andere erstmals „Burn-out“. Er schrieb: „Wir arbeiten zu viel, zu lange und zu intensiv.“ Freudenberger entwarf ein Stufenmodell, um die Merkmale der Erschöpfung zu erkennen, das bis heute Anerkennung findet.
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Stufe 1: der Zwang, sich zu beweisen.
In dieser Woche, viele Jahre nach Schmidt und Freudenberger, verschickt Kevin Kühnert eine E-Mail. Es ist ein Abschiedsbrief aus dem Amt des SPD-Generalsekretärs. „Die Energie, die für mein Amt und einen Wahlkampf nötig ist, brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden“, schreibt Kühnert. Woran genau der SPD-Politiker leidet, macht er nicht öffentlich. Mehrere Medien berichten über eine „psychische Erkrankung“.
Für diesen Artikel ist nicht zentral, was Kühnert hat. Klar ist: Für den Betrieb der Politik in Berlin empfindet er derzeit keine Kraft mehr. Wer Kühnert kennt, weiß, wie stark er sich einsetzte für die SPD. Mit seiner Zeit, mit seinem Gesicht, mit seinem Namen. Und doch schlingert die Partei seit Monaten durchs Umfragetief.
Spitzenpolitik war schon immer ein Knochenjob. Sitzungen in der Fraktion, im Ausschuss, manchmal schon frühmorgens, nicht selten bis spät in die Nacht. Dann Termine zu Hause im Wahlkreis. Und immer wieder Wahlkämpfe. Schon Helmut Schmidt berichtete von Arbeitstagen von „14, 15, 16 Stunden“. Doch nicht allein die vielen Arbeitsstunden machen laut Fachleuten krank. Es ist auch das permanente Themen-Hopping, die ständig neuen Rollen, die Politiker ausfüllen müssen.
„Da ist der Einsatz von Ressourcen über das eigene Leistungsvermögen hinaus“
„Es gibt Menschen, die sind eher anfällig für Burn-out, andere haben einen besseren Schutz – oder sorgen besser für sich“, sagt Thorsten Kienast, Psychologe und Psychiater, der an der Medical School in Hamburg und der Berliner Charité arbeitet. Zugleich sieht er im Alltag von Politik-Profis Mechanismen, die sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken können. „Da ist der Zwang, sich zu beweisen. Da ist der Einsatz von Ressourcen über das eigene Leistungsvermögen hinaus, das notwendig erscheint, um im politischen Berlin zu bestehen. Da ist der Konkurrenzdruck, einmal aus den eigenen Reihen, einmal durch andere Parteien.“
Freudenbergers Stufe 4: Konflikte mit Kollegen oder dem Partner nehmen zu, auch Schlafmangel und erste körperliche Beschwerden – doch all das bleibt noch unbemerkt.
Der Umgang mit Krankheit, gerade auch mit psychischen Erkrankungen, ist offener geworden als zu Schmidts Zeiten. Und doch ist Schwäche in der Politik weiterhin ein Tabu, mindestens ein Makel. Mächtig ist, wer leistungsstark und ausdauernd ist. Auf die Spitze treibt dieses Bild der Körperlichkeit der russische Präsident Wladimir Putin, der sich oberkörperfrei beim Angeln inszeniert.
Über Belastungen reden die wenigsten Politikerinnen und Politiker gerne. Obwohl die allermeisten damit zu kämpfen haben. Und manche geraten in mentale Krisen, in chronische Erschöpfungszustände, in Depressionen. Vor einigen Jahren sorgte der „Burn-out“ von Sahra Wagenknecht für Schlagzeilen. Später sagte sie über diese Zeit: „Da ging nichts mehr.“
Freudenberger schreibt zur Stufe 8, dass sich die Menschen in dieser Phase zurückziehen, apathisch wirken. Jede zusätzliche Anforderung empfinden sie als belastend, versuchen, ihr auszuweichen.
Die Grünen-Politikerin Nyke Slawik zieht sich nach der Sommerpause 2022 für eine Zeit raus aus dem Betrieb im Bundestag. Auf Instagram schreibt sie von ihrer Wut über die Klimakrise, über politisch motivierte Gewalt. Seit Monaten gebe sie „fast täglich Vollgas“. Nun aber könne sie nicht mehr. „Vor allem bin ich müde. Sehr, sehr müde. Und ein bisschen traurig. Und ich habe gerade keine Kraft mehr, diese Gefühle zu verbergen.“
Psychologe Kienast hebt hervor, dass die Politik für viele nicht nur ein Job ist zum Geldverdienen. Das ideele Investment ist hoch, um „die eigenen Ideen und Ziele in der Politik durchzusetzen – damit das gelingt, braucht es viel Zeit und mentale Stärke“, sagt Kienast. Manche übernehmen sich.
Viel Verantwortung, aber wenig Einfluss. Ein enormer Druck baut sich auf
CDU-Politiker Peter Tauber zieht sich 2017 aus der Politik zurück, nachdem er erkrankte und operiert werden musste. Wie Kühnert war er damals Generalsekretär, ein Job, den viele in der Politik als enorm belastend beschreiben – auch weil die „Generäle“ die Arbeit des Kanzlers oder der Kanzlerin in jeder Talkshow verteidigen müssen, ohne viel Einfluss darauf zu haben. Das bedeutet: viel Verantwortung, aber wenig Einfluss. Ein enormer Druck baut sich auf. Anfällig für Burn-out in Unternehmen, so zitiert die „Zeit“ Studien, sind vor allem Menschen in den mittleren Managementebenen, die genau diesen Druck erleben und deren Einfluss auf die Leitung der Firma dennoch begrenzt ist.
Was Politikerinnen und Politiker jedoch noch zusätzlich aushalten müssen, ist der permanente Blick der Öffentlichkeit. Und der nimmt zu, wenn die Krisen zunehmen: Corona, Krieg in der Ukraine, in Nahost. Omnipräsenz in der Politik ist gefordert, anders als zu Kanzler-Schmidt-Zeiten, nicht nur vor Kameras und Mikrofonen der Journalisten, sondern auch in den sozialen Netzwerken.
Dort wächst Hetze und Häme gegen die Politik seit Jahren, wie Studien belegen. Oft geht es nicht um die Sache – im Visier steht die Person. „Wir leben in einer sehr aufgeregten Mediengesellschaft. Das Tempo ist rasant. Es gibt keine Kultur des Verzeihens und der Nachsicht“, sagt SPD-Außenexperte Michael Roth im „Tagesspiegel“. Auch er litt vor zwei Jahren an Depressionen, machte seine Erkrankung öffentlich.
Stufe 12 steht am Ende von Freudenbergers Skala. Der Zusammenbruch, körperlich, mental. Eine absolute Notsituation, wie Fachleute beschreiben.
Politiker wie Roth beschreiben, wie sie „mühsam gelernt“ hätten, achtsamer mit sich umzugehen. Sich nicht mehr für jeden Kampf in den politischen Boxring zu stellen. Roth holte sich Hilfe, machte eine Therapie. Wagenknecht lässt sich krankschreiben, schläft viel, liest, macht Sport.
Im Kampf gegen Burn-out, Erschöpfung und Depression rät Psychologe Kienast dazu, das Leben auf „mehrere Säulen“ zu stützen. „Dazu gehören: Gesundheit, Familie, Freunde, Hobbys und der Job. Doch die Arbeit ist nur ein Fundament von vielen.“ Studien hätten belegt, dass Personen resilienter sind, die neben dem oftmals aufreibenden Beruf einen anderen erfüllenden, gut gepflegten Lebensbereich besitzen, der ihnen Lebenslust, Selbstbestärkung, Stärke und positive Emotionen vermittele, so Kienast. Und er sagt: „Die Menschen brauchen einen Kompass. Sie müssen wissen, was ihnen wichtig im Leben ist.“ Wer sich chronisch erschöpft fühle, müsse seinen Alltag entrümpeln. Wer Freunde und Sport vernachlässige, sollte mal seinen besten Freund anrufen oder sich wieder aufs Rennrad schwingen. „20 Minuten schwitzen am Tag, sind eine sehr gute Vorsorge vor psychischen Erkrankungen, in Absprache mit dem Hausarzt natürlich“, sagt Experte Kienast.
Was genau Kevin Kühnert hat, was er tut, wie es ihm geht, darüber ist wenig bekannt. In seinem Brief an die Genossen der Partei schreibt er am Ende aber drei Worte, die zeigen, dass er mit der Politik nicht abgeschlossen hat: „Wir sehen uns!“
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