Jerusalem. Es drohe ein neuer „7. Oktober“, diesmal an der Nordgrenze Israels, warnt Netanjahu. Die Regierung geht rigoros gegen die Hisbollah vor.

Nun gibt es also einen Codenamen: „Pfeile des Nordens“ heißt sie ab jetzt, die militärische Operation Israels im Libanon, die immer noch kein Krieg sein will, aber längst einer ist. Seit Montagmorgen greift Israels Armee im Libanon so heftig an, wie man es seit dem zweiten Libanonkrieg nicht gesehen hat. Mehr als 1600 Ziele hätten Israels Kampfflieger aus der Luft beschossen, sagt ein Armeesprecher. Fast 500 Menschen seien dadurch zu Tode gekommen, sagt das libanesische Gesundheitsministerium – darunter auch Dutzende Kinder. In der Hauptstadt Beirut wurden Dienstag sechs Menschen getötet. Ziel eines Angriffs vom Montag ist nach Hisbollah-Angaben der dritthöchste Kommandeur der Miliz, Ali Karak, gewesen. Er habe den Angriff überlebt. Im Südlibanon herrscht Chaos, Massen sind auf der Flucht vor den Luftangriffen, die aber auch im Norden des Landes drohen.

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Von Madeleine Janssen, Jochen Gaugele und Jörg Quoos

Indes terrorisiert die Hisbollah die Menschen in Israel mit ihren Raketenangriffen, mehr als 250 waren es am Montag an einem Tag. Die Attacken gehen immer weiter über das unmittelbare Grenzgebiet hinaus. Im Großraum Haifa und rund um Nazareth mussten die Menschen in der Nacht auf Dienstag teils vier oder fünf Mal in den Luftschutzraum rennen, sofern sie einen in der Nähe haben – was vor allem in den arabischen Dörfern und Städten im Norden nicht immer der Fall ist. Zwar wird der Großteil der Raketen vom Schutzschirm Iron Dome der israelischen Armee abgewehrt und schlägt nicht ein. Die dabei entstehenden Splitter sind aber beim Herabfallen imstande, Menschen zu töten oder Mauern zu durchbrechen. Die Zone, in der alle Schulen und Kindergärten geschlossen bleiben müssen, wurde daher ausgeweitet. Von Haifa nordwärts sind die Strände geschlossen, Versammlungen im Freien sind untersagt, wenn sie mehr als zehn Menschen umfassen.

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Israel muss sich auf dramatischen Raketenbeschuss einstellen

Am Montag hatte die Hisbollah erstmals auch Gebiete weiter im Süden, etwa auf der Höhe von Tel Aviv, beschossen – allerdings nicht die dicht bevölkerte Küstenstadt selbst, sondern die israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland. Abgezielt hatte man es auf die jüdische Bevölkerung, unter dem Beschuss litten aber auch die rundherum lebenden Palästinenser.

Nun muss sich Israel darauf einstellen, dass das ganze Landesgebiet beschossen werden könnte – zumindest ist das der Grund, den die Regierung unter Benjamin Netanjahu angab, um Montagabend einen nationalen Ausnahmezustand zu verhängen. Dieser Status gibt der rechts-religiösen Regierung mehr Macht, Versammlungen und Aktivitäten zu verbieten und Platzverbote zu verhängen.

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Dass die Hisbollah in der Lage ist, mit ihrem Arsenal ganz Israel mit Raketenbeschuss zu überziehen, ist zwar seit Langem bekannt. In Israel ging man aber bis jetzt davon aus, dass die pro-iranische Miliz von dieser Option keinen Gebrauch machen würde. In der aktuellen Eskalation könnte sich das ändern. Israels Armee sagt: Wir sind auf alles gefasst. Und sie greift weiter im Libanon an.

Das Kalkül, das dahinter steckt: Israel will den aktuellen Krieg nützen, um völlig neue Verhältnisse mit der Hisbollah zu schaffen. Sie soll nicht nur hinter den Litani-Fluss gedrängt werden, Israel will auch sämtliche Infrastruktur der Hisbollah südlich des Flusses zerstören. Zweitens geht es darum, die Kommandostruktur der Miliz empfindlich zu beeinträchtigen – zum Teil ist das schon gelungen.

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Drittens will Israel die Hisbollah in ihrer Rüstungsstärke um Jahre zurückwerfen und die Anzahl ihrer Kämpfer reduzieren. Wie erfolgreich man damit schon war, darüber hält sich die Armee bedeckt. Laut den „letzten verfügbaren Zahlen“ habe die Luftwaffe bislang 400 Hisbollah-Kämpfer getötet, sagt die Armee-Pressestelle auf Anfrage. Diese Zahl hatte man aber auch schon im Juli genannt, also lange vor den Pager-Attacken und der massiven Luftangriffsserie der vergangenen Tage.

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Israel greift Ziele im Süden des Libanon an. Ziel ist die Schwächung der Terrormiliz Hisbollah. © DPA Images | dpa-infografik GmbH

Diese Ziele dieser Kampagne könne man erreichen, ohne gleich einen großen Krieg auszulösen, ist man in Israels Sicherheitsapparat überzeugt. Immer noch herrscht nämlich die Ansicht, dass die Hisbollah einen solchen Krieg selbst nicht will. Selbst der Iran sei an einer vollen Eskalation nicht interessiert, glaubt Itamar Yaar, früher Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats in Israel.

Dennoch ist die Eskalation, die angeblich niemand will, in vollem Gange. Ob sie in eine israelische Bodenoffensive münden wird, ist fraglich: Noch hat keine Mobilisierung für eine solche Offensive stattgefunden. Und die Armee betont, ganz anders als zu Beginn des Gaza-Kriegs, dass man die aktuellen Evakuierungsaufrufe im Libanon keinesfalls für eine Bodenoffensive nutzen will. Auch das kann sich freilich ändern.

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Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will dafür auch auf der UN-Generalversammlung werben, wo ihm einiger Widerstand entgegenschlagen wird. Er wird dort wohl auch von der angeblichen Gefahr eines „nördlichen 7. Oktober“ sprechen – und von Israels Notwendigkeit, sich vor einem solchen Hisbollah-Sturm auf galiläische Dörfer zu schützen.

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Ein solcher Sturm war aber auch schon vor der aktuellen Eskalation höchst unwahrscheinlich. Denn anders als im Jahr 2023, als Israels Regierung alle Anstrengungen auf den Umbau der Justiz richtete und Warnungen vor einem drohenden Überfall ignorierte, ist man jetzt ausreichend alarmiert und im Norden auch gut gerüstet. Das Szenario eines neuen Massakers dient also eher dazu, sich im Ausland Rückhalt zu verschaffen – denn diesen kann Israel im Falle einer weiteren Eskalation dringend gebrauchen.