Moskau. 334 Menschen, darunter 186 Kinder, starben, als Terroristen 2004 eine Schule überfielen. Das Drama hat tiefe Spuren hinterlassen.

Es war der 1. September 2004. Der erste Schultag in der Schule Nummer 1 in Beslan im muslimisch geprägten Nordossetien, das direkt an Georgien grenzt. Es sollte ein wundervolles Fest werden, wie überall in Russland zu Schulbeginn. Mit Musik, Aufführungen der Schüler und Reden der Lehrer. Ein Traumstart ins neue Schuljahr.

„Viele waren da“, erzählt Sweta aus Beslan unserer Redaktion. Was dann geschah, das würde Sweta gerne wegschieben, verdrängen, doch die Bilder im Kopf bleiben. „Als die ersten Schüsse fielen, dachten viele noch an Luftballons, die platzen, oder an ein Feuerwerk. Erst danach sahen sie Maskierte mit Waffen, die die Menschen, Kinder und Erwachsene, in die Sporthalle trieben und dort als Geiseln hielten.“ Männer, die ihre Angehörigen schützen wollten, seien von den anderen getrennt und sofort erschossen worden.

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Drei Tage lang hielten islamistische Terroristen die Schule besetzt, nahmen über 1.100 Kinder, Eltern und Lehrer in Geiselhaft. Zur Geiselnahme bekannte sich der nordkaukasische Rebellenführer Schamil Bassajew, verantwortlich für viele Terroranschläge in Russland. „Die Situation war äußerst angespannt“, erzählt die georgische Journalistin Nana Lejava unserer Redaktion. Sie war als eine der Ersten vor Ort. „Die ganze Stadt war um die Schule versammelt – Eltern, Lehrer, Verwandte der Geiseln. In einem nahegelegenen Kulturhaus war ein provisorisches Pressezentrum eingerichtet worden, in dem die offiziellen Behörden nur spärliche Informationen preisgaben.“

Russland: Die Armee schoss auf alle – „ohne Rücksicht auf Verluste“

Am dritten Tag der Geiselnahme stürmten die Sicherheitskräfte die Schule. Panik, Geiseln flohen, sie „wurden von freiwilligen Helfern in privaten Autos ins Krankenhaus gebracht, um versorgt zu werden“, erinnert sich Sweta. Die Schule wurde zum Kriegsgebiet. Die Armee beschoss das Gebäude mit Kampfpanzern. Die Decke im Sportsaal, wo sich die Geiseln befanden, stürzte ein, viele Menschen kostete das das Leben. „Der Sturmangriff begann völlig unerwartet“, so Nana Lejava. „Ich erinnere mich noch, wie sich die russischen Ermittler unterhielten: Vielen der Opfer wurde nicht in den Rücken geschossen, sondern von vorne. Es wurde auf alle geschossen, ohne Rücksicht auf Verluste.“ Die Bilanz dieses Tages: 334 Geiseln starben, darunter 186 Kinder.

Hart gingen die Behörden auch gegen unliebsame, kritische Berichterstatter vor. Nana Lejava wurde festgenommen, angeblich war sie aus Georgien illegal eingereist. „Ich wurde in einem dreckigen Raum festgehalten, wo mir gesagt wurde, dass ich einer gynäkologischen Untersuchung unterzogen werden müsste – angeblich eine Routineuntersuchung. Das war ein extrem belastender Moment für mich.“ Schließlich durfte sie zurück nach Georgien.

Einer der Terroristen überlebte, er wurde im Mai 2006 zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Verlauf des Prozesses kamen einige Hintergründe zutage. Die Geiselnehmer wollten wohl verhandeln, wollten im Gegenzug Geiseln freilassen. Der vom Inlandsgeheimdienst FSB geführte Krisenstab habe jedoch abgelehnt. Auf Befehl von Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Das Foto aus einem Video des Senders Russian NTV channel zeigt einen der Geiselnehmer in der Sporthalle, der mit Sprengstoff hantiert.
Das Foto aus einem Video des Senders Russian NTV channel zeigt einen der Geiselnehmer in der Sporthalle, der mit Sprengstoff hantiert. © picture-alliance / dpa/dpaweb | EPA

20 Jahre nach dem Terroranschlag ist Kremlchef Putin in Beslan. Ein Besuch an der Schule, Blumen und Kniefall an den Denkmälern für die Opfer und die bei ihrem Einsatz in der Schule getöteten Soldaten. Und ein Gespräch mit den „Müttern von Beslan“, Vertreterinnen der Eltern der Opfer. Sie erinnern Putin an sein Versprechen aus dem Jahr 2005, „die ganze Wahrheit“ über die Belagerung auf den Tisch zu legen. „Wir sagten ihm, wenn die für die Sicherheit Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen worden wären, wären die Sicherheitsdienste heute vielleicht effizienter und es hätte keine Terroranschläge mehr gegeben“, zitiert das Onlineportal Meduza Anita Gadijewa, Mitbegründerin der Organisation, die ihre neunjährige Tochter bei der Belagerung der Schule verloren hatte. 

Putin gab dem Ausland die Schuld

Schuld sei das Ausland gewesen, sagt hingegen Putin.  „Wir wissen sehr gut, dass aus dem Ausland nicht nur versucht wurde, das ungeheure Verbrechen zu rechtfertigen, sondern dass von dort den Terroristen auch jegliche Hilfe geleistet wurde: moralische, politische, informative und finanzielle“, so der Kremlchef in Beslan.

Doch mit zunehmenden Spannungen in den muslimischen Teilrepubliken Russlands nimmt auch der islamistische Terror zu. Erst im März starben bei einem Anschlag auf die Konzerthalle „Crocus City“ in einem Vorort von Moskau 145 Menschen. Dass die Behörden derartige Anschläge nicht verhindern können, wird für den Kreml mehr und mehr zum Problem.

Ein Soldat trägt in Besan ein Baby, das die Geiselnehmer freigelassen hatten, aus dem Gebäude.
Ein Soldat trägt in Besan ein Baby, das die Geiselnehmer freigelassen hatten, aus dem Gebäude. © DPA Images | Sergei_Chirikov

In Beslan sind die Ereignisse von damals bis heute lebendig. Sweta erzählt von einer Bekannten, deren zwei Töchter in der Schule starben. Sie selbst blieb an jenem Tag zuhause, versorgte das Baby, ihr drittes Kind. „Sie machte sich große Vorwürfe nicht mit in die Schule gegangen zu sein, ich habe sie nie wieder lachen gesehen, seitdem ist sie immer in Schwarz gekleidet“, sagt Sweta.

Die Toten von Beslan sind auf dem Friedhof der Stadt in einer Reihe beigesetzt. „Stadt der Engel“, nennen die Einheimischen diesen Teil des Friedhofes. Kürzlich übernahm eine Mutter den Posten der Friedhofswärterin, „um ihrer Tochter nahe zu sein“, so Sweta. Feste zum Schuljahresbeginn gibt es in Beslan keine mehr. Und der Unterricht beginnt dort am erst am 3. September. Als damals alles zu Ende ging, vor 20 Jahren.