Berlin. In Deutschland hängt der Bildungserfolg vom Elternhaus ab. Arme Kinder haben es viel schwerer. Ein Experte erklärt, was in Schule und Kita schiefläuft.
Die Klage ist alt, doch geändert hat sich wenig: In Deutschland ist der Aufstieg von Kindern aus bildungsfernen Haushalten besonders schwer. Dabei gibt es viele Ansätze, mit denen Schülerinnen und Schüler besser gefordert werden sollen. Der Soziologe Kai Maaz leitet das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Im Interview erklärt der Professor der Goethe- Universität Frankfurt am Main, warum sie nicht gut genug greifen.
Warum ist es in Deutschland noch schwerer als in vielen anderen OECD-Ländern, als Kind einer sozial schwachen Familie einen gehobenen Bildungs- und Ausbildungsabschluss zu erlangen? Schließlich ist das Problem seit dem ersten Pisa-Schock im Jahr 2001 bekannt.
Kai Maaz: Die Frage, warum es keinen Fortschritt bei der Förderung von Kindern aus bildungsfernen Familien gibt, ist berechtigt. Nicht erst seit dem Pisa-Schock wissen wir, dass in Deutschland der Bildungserfolg in hohem Maße vom Elternhaus abhängt. Die TIMS-Studie etwa hat bereits in den 1990er-Jahren Hinweise darauf gegeben. Tatsächlich wurde viel initiiert. Eines der grundlegenden Probleme ist aber, dass viele Maßnahmen wie das neue Startchancen-Programm in der Kindesentwicklung zu spät beginnen, und zwar dann, wenn die Ungleichheiten sichtbar werden, etwa beim Übergang von der Grundschule auf die Sekundarstufe 1. Dabei beginnt der Prozess viel früher. Das bedeutet, dass Kinder früher in die Kitas kommen sollten, wo ihr Sprachstand obligatorisch ermittelt wird und sie bei Bedarf gefördert werden. Hamburg ist da ein Vorbild: Dort kann die Schulpflicht für ein Vorschuljahr vorgezogen werden. Wenn man Defizite diagnostiziert, muss das schließlich auch Folgen haben, sonst braucht man das nicht zu diagnostizieren.
In anderen Ländern sind die Chancen für sozial benachteiligte Kinder auf einen Bildungserfolg oft größer. Was macht Deutschland falsch?
Maaz: In Deutschland hat es keine hinreichenden Konsequenzen, wenn Bildungsziele nicht erreicht werden. Wenn ein Kind die Addition bis 100 nicht verstanden hat, dann gibt es eine 5. Danach geht der Unterricht einfach weiter, statt dafür zu sorgen, dass die Addition bis 100 verstanden wird. Wir geben die Schuld den Kindern, ganz nach dem Motto: Die haben es wieder nicht geschafft. Wir müssen aber vielmehr die Unterschiedlichkeit der Kinder in den Lehrangeboten berücksichtigen.
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Hinzu kommt, dass Lehrkräfte Kindern aus bildungsfernen Schichten schlicht weniger zutrauen, ihnen etwa seltener eine Gymnasialempfehlung geben.
Maaz: Wir haben tatsächlich Untersuchungen, die zeigen, wie Kinder aus Akademikerhaushalten bei gleicher Leistung durch Stereotype anders eingeschätzt werden als Kinder aus bildungsfernen Schichten. Leistungserhebungen sollten daher nicht immer nur durch die Lehrkraft stattfinden, Objektivität könnte erlangt werden, wenn es unabhängige Leistungstests geben würde, die nicht von den Lehrerinnen und Lehrern gestellt werden, die aber mit in die Bewertung einfließen. Das könnte auch durch den Einsatz von KI erfolgen. In der Schweiz ist das zum Beispiel neben den Klassenarbeiten bei Übergang in die weiterführenden Schulen in einigen Kantonen als Korrektiv üblich. Doch in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte ist das bislang nur ein Randthema.
Woran liebt es, dass jungen Menschen aus armen Elternhäusern weniger zugetraut wird?
Maaz: Möglicherweise steckt der Leistungsgedanke dahinter. Wenn es die Eltern nicht geschafft haben, warum sollten es dann die Kinder schaffen? Hinzu kommt eine gewisse Mittelschichtorientierung. Lehrkräfte sind selbst Akademiker und präsentieren eine bestimmte soziokulturelle Gruppe.
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Welche Unterstützung brauchen junge Menschen aus armen Familien für eine erfolgreiche akademische Laufbahn?
Maaz: Studierwillige Jugendliche aus bildungsfernen Familien bekommen oft zu hören: Mach erst mal eine Ausbildung, dann kannst du immer noch studieren. Der Wert von höheren Bildungsabschlüssen wird oft unterschätzt. Hier muss man stärker proaktiv und präventiv arbeiten und besser informieren. Das gilt gerade auch für die Finanzierung, es gibt ja Möglichkeiten, die müssen nur bekannt sein. Auch ein Mentorenprogramm ist sinnvoll, das die Unterstützung gewährleistet, die in Akademikerfamilien bereits vorhanden ist. Vom Kindergarten an sollte die ganze Familie mitgenommen werden, durch Patenschaften, Leih-Omas, Stadteilmütter und andere niederschwellige Angebote. Kombiniert mit guten Angeboten, in Kita und Schulen wäre das langfristig gedacht und für die Förderung der Kinder optimal.
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