Tel Aviv. Das Attentat auf Hamas-Führer Haniyeh war eine Provokation: Der Iran droht mit Vergeltung. Israels Premier Netanjahu dürfte das nützen.
In Israel herrscht vor dem erwarteten iranischen Großangriff gespannte Normalität. In Tel Aviv und Jerusalem gehen die Menschen wie gewohnt zur Arbeit, auf den Märkten herrscht dichtes Gedränge, aber von Hamsterkäufen keine Spur. Nachdem der letzte Angriff Teherans mit über 300 Raketen und Drohnen erfolgreich abgewehrt wurde, glauben viele, dass es auch diesmal nicht so schlimm werden wird.
Nur vereinzelt hört man Befürchtungen, der weltweit einmalige Raketenabwehrschirm „Iron Drone“ könne diesmal zeitgleich aus dem Libanon, dem Jemen und Iran anfliegende Raketen nicht abfangen. „Man sei auf alle Eventualitäten vorbereitet“, sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Fernsehansprache.
Netanjahu könnte der große Gewinner des Konflikt werden
Der Premier scheint schon jetzt als Gewinner der Eskalation festzustehen – obwohl er sich gerade erst eine öffentliche Rüge des engsten Bündnispartners abholen musste. US-Präsident Joe Biden sei in Anwesenheit von Vizepräsidentin Kamala Harris in einem Telefonat erstmals gegenüber Netanjahu wütend geworden, berichten die Times of Israel und andere Medien. „Nehmen sie die Unterstützung des US-Präsidenten nicht für selbstverständlich und unterzeichnen sie endlich einen Waffenstillstand“, wird Biden zitiert.
Netanjahu allerdings zeigt sich unbeirrt. Die indirekten Gespräche mit der Hamas seien gescheitert, ein Abkommen über die Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand sei in weiter Ferne, teilte Netanjahu mit, nachdem Verhandlungen in Kairo ergebnislos verlaufen waren. In Israel wird die Zahl von Netanjahus Gegnern derweil immer größer. Am Wochenende demonstrierten wieder tausende Israelis auf den Straßen, sie hoffen auf eine Freilassung der noch bis zu 115 in Gaza festgehaltenen Geiseln. In Tel Aviv vertrieben die Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir unterstehende Polizeieinheiten die friedlichen Protestierenden mit Schlagstöcken.
Netanjahu sucht die Eskalation
Trotz der anhaltenden Kritik weiß sich Netanjahu mit einer Methode zu helfen, die zersplitterte israelische Gesellschaft wieder hinter sich zu bringen: Eskalation.
Angesichts des drohenden Raketenangriffs stehe ein Überlebenskampf bevor, den man nur gemeinsam gewinnen könne, so Netanjahu. Dass Netanjahu mit dem Attentat auf Ismail Haniyeh, den als pragmatisch geltenden Verhandlungsführer der Hamas, die Eskalation selber herbeigeführt hatte, perlt an ihm. Dabei hatte es der katarische Außenminister, Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani, klar formuliert: „Verhandlungen zur Beilegung der Krise sind unmöglich, wenn eine Seite den Repräsentanten der anderen umbringt.“
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Imam wird festgenommen – Stimmung weiter aufgeheizt
Doch die israelischen Medien sind im Stakkato-Takt schon mit der nächsten Eskalation beschäftigt. In der Ortschaft Tulkarem im Westjordanland wurde angeblich eine Terrorzelle ausgehoben, bei der Bombardierung eines Flüchtlingslagers kamen am Freitag mehr als acht Palästinenser ums Leben. Nach dem Freitagsgebet nahmen Ben Gvirs Beamte Scheich Sabri in der Al Aksa-Moschee in der Altstadt von Jerusalem fest. Der Imam hatte in seiner Rede vor den Betenden den Tod von Hamas-Führer Haniyeh betrauert.
„Sicher, man kann das Verhalten Sabris kritisch sehen“, sagt der politische Analyst Daniel Seidemann aus Jerusalem. „Aber, wenn man ich gefragt worden wäre, wie kann man die Lage weiter eskalieren lassen? Ich hätte die Verhaftung von Sabri empfohlen.“
Krieg könnte im Interesse Netanjahus sein
Langsam schwant es immer mehr Israelis wie Seidemann, dass ein regionaler Krieg nicht im Interesse des Regimes in Teheran, sondern von Netanjahu und seinen Koalitionspartnern ist. Denn die Botschaften zahlreicher Länder fordern ihre Bürger auf, aus dem benachbarten Libanon auszureisen, nicht aus Israel.
Netanjahu werde auch einen moderaten Angriff aus dem Iran ohne zivile Opfer mit einem massiven Schlag gegen die Hisbollah beantworten, ist eine weit verbreitete These. Tatsächlich sieht die israelische Regierung nun eine einmalige Chance gekommen, die Hisbollah zu zerstören. Die dafür nötige US-Unterstützung böte könnte die mögliche iranische Vergeltung bieten, trotz der jüngsten Kritik von US-Präsident Biden.
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Krieg könnte auch Folgen für Deutschland haben
Mit einem Hisbollah-Rückzug aus der Grenzregion würde ein sowieso irgendwann nötiger Krieg nur verschoben, sagen viele israelische Offiziere in den seit zehn Monaten unter Beschuss stehenden Orten Israels.
Doch für Europa birgt Netanjahus nächster Eskalationsschritt erstmals direkte Folgen. Der Angriff auf die Hisbollah-Infrastruktur hätte den Zusammenbruch der angeschlagenen Wirtschaft des Libanon zur Folge. Die Mehrheit der Libanesen sieht die Hisbollah als ausländische Okkupation, wird aber wie die Palästinenser im Westjordanland am meisten unter einem Krieg leiden.
Netanjahu wird die dann kommende Flüchtlingswelle nach Europa nicht stören. Denn ein weiteres Ziel seiner radikalen Koalitionspartner ist die Ausweitung der jüdischen Siedlungen und neue Siedlungen in Gaza – und die Ausreise möglichst vieler Palästinenser. Teheran indes würde mit einem Krieg gegen das militärisch weit überlegene Israel das Raketenarsenal seiner Verbündeten und damit einen wichtigen Abschreckungsfaktor gegen Angriffe auf sein Atomprogramm verlieren.
Viele Israelis fürchten dieser Tage vielleicht ihren Premier mehr als das Regime in Teheran.