Düsseldorf. Tomahawk statt Pershing: Die Raketen-Pläne der Nato wecken Erinnerungen an die Demos gegen den „Doppelbeschluss“ zu Beginn der 1980-er.
Die USA wollen mit Unterstützung der Nato Marschflugkörper in Deutschland stationieren, die bis nach Russland reichen und nuklear bestückt sein können. Droht ein neues Wettrüsten zwischen der Nato und Russland? Viele über 50-Jährige in NRW fühlen sich an die frühen 1980-er Jahre erinnert, als Rüstung und Nachrüstung die Angst vor einem Atomkrieg befeuerten.
Eigentlich fühlt sich das Leben vor 40 Jahren in der Bundesrepublik angenehm an. Viele Jüngere stehen vor der Entscheidung, ob sie lieber Popper oder Punk sein möchten und machen Technik-Erfahrungen beim „Frisieren“ von Mofas. Viele Ältere gehen noch in die Kirche, Eckkneipen sind soziale Treffpunkte, Fleisch gilt als Lebenskraftspender, die ersten Heimcomputer erobern die Arbeitszimmer, und Twix heißt noch Raider. Dieses teils beschauliche, teils bunte Miteinander wird allerdings überschattet vom zunehmenden Unbehagen über einen Ost-West-Konflikt, der aus dem Ruder zu laufen scheint.
Pershing 2 und Cruise Missiles als Antwort auf sowjetische SS 20-Raketen
Ende 1979 hatte die Nato auf Wunsch des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD), damals noch ein Mann ohne Kultstatus, einen „Doppelbeschluss“ gefasst: 108 Pershing-2-Mittelstreckenraketen und 464 Cruise Missiles (Marschflugkörper) sollten in Westeuropa in Stellung gebracht werden, falls Verhandlungen mit der Sowjetunion über einen Abbau von Raketen erfolglos bleiben sollte. Die UdSSR hatte zuvor hunderte SS20-Mittelstreckenraketen mit je drei Atomsprengköpfen auf Westeuropa gerichtet.
Der Kalte Krieg, so empfinden es in West- und in Osteuropa immer mehr Menschen zu Beginn der 1980-er Jahre, läuft langsam heiß. Die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert, und im Weißen Haus in Washington regiert mit Ronald Reagan ein Hardliner, der in der UdSSR das „Reich des Bösen“ sieht.
Der „Eiserne Vorhang“ hängt gleich nebenan
In Westdeutschland fragen sich immer mehr Bürger, vor allem Jüngere, ob sich diese Rüstungsspirale immer weiterdrehen wird und wo das endet. Der „Eiserne Vorhang“ hängt ja nicht irgendwo bei Moskau und Minsk, sondern – aus Ruhrgebietssicht – nur etwa 200 Kilometer östlich an der deutsch-deutschen Grenze. Die damalige Wehrpflicht-Armee Bundeswehr hat rund 500.000 Soldaten und nicht – wie heute – 170.000. In Dortmund ist die britische Rheinarmee stationiert, in Holzwickede stehen Nike-Herkules-Flugabwehrraketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können.
Unter dem Eindruck des „Doppelbeschlusses“ baut sich in wenigen Jahren ein gewaltiger Widerstand gegen das Wettrüsten auf. „Jeder Vorort hatte seine eigene Friedensgruppe. Es gab Juristen für den Frieden, Mediziner für den Frieden, Naturwissenschaftler, Pädagogen und so weiter“, erinnert sich Wolfgang Dominik (79) aus Bochum. Dominik war damals friedensbewegt und ist es heute immer noch. Der Slogan aus den 80-ern -- „Raketen sind Magneten“ -- gelte weiter, meint der frühere Lehrer.
„Petting statt Pershing“ und andere Sprüche
Neben „Raketen sind Magneten“ war „Petting statt Pershing“ ein Motto der Friedensbewegung. „Frieden schaffen ohne Waffen“ stand 1982 über dem „Berliner Appell“ von Robert Havemann und Rainer Eppelmann. In Ostdeutschland wurde das biblische „Schwerter zu Pflugscharen“ populär. Wer es ironisch mochte, rief: „Besuchen Sie Europa, solange es noch geht“
1981, 1982 und 1983 demonstrieren wiederholt Hunderttausende im Bonner Hofgarten beziehungsweise auf den Rheinwiesen bei Beuel. Ostermärsche an Rhein und Ruhr wachsen zu Massendemonstrationen heran. Der Riss, der mitten durch die Gesellschaft geht, zerreißt auch die SPD. Willy Brandt sagt 1983 im Hofgarten: „„Wir brauchen in Deutschland nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung, wir brauchen weniger.“ Die aufstrebenden Grünen um Petra Kelly haben Zulauf, Jungsozialist Oskar Lafontaine erscheint auf der Bühne.
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Joachim Schramm (65) aus Witten, Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft, hat 1982 den nach langer Pause ersten großen Friedens-Ostermarsch im Ruhrgebiet mitorganisiert. Und er hat erlebt, wie der Protest in Essen, Bochum und Gelsenkirchen Fahrt aufnahm. „Wir haben damals an Wohnungstüren geklingelt und um Zustimmung gebeten, eine Straße symbolisch zur ,atomwaffenfreien Zone‘ zu erklären“, erinnert sich Schramm. Es sei nicht so leicht wie heute gewesen, eine Genehmigung für Info-Stände und Protestaktionen zu bekommen. So gesehen habe der Protest der frühen 1980-er die Gesellschaft entkrampft.
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
In Schulen und Universitäten ist es angesagt, gegen die Nato-Nachrüstung zu sein. Dort finden zwar auch viele den „Doppelbeschluss“ richtig, aber es gehört schon etwas Mut dazu, das offen zu sagen. Im September 1982 unterstützen 200 Promis im Ruhrstadion die Friedensbewegung, unter ihnen Udo Lindenberg, Harry Belafonte, André Heller und Hanns Dieter Hüsch.
Die Angst vor dem Atomkrieg prägt die Kultur in den frühen 1980-ern. Nenas „99 Luftballons“, deren Beschuss in „99 Jahren Krieg“ endet, werden weltweit zum Hit. In einigen, aber nicht in allen deutschen Kinos läuft 1984 der Spielfilm „The Day After“. Er zeigt, was während und nach einem Atomschlag geschehen könnte. Den Zuschauern stehen die Haare zu Berge. Experten überschlagen sich mit Warnungen: Ein echter Atomkrieg wäre noch viel schlimmer.
Bundestag stimmt 1983 dem Doppelbeschluss zu: 286 Ja-, 226 Gegenstimmen, eine Enthaltung
Ende November 1983 stimmt der Bundestag nach turbulenter Debatte dem Antrag von CDU und FDP, amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, zu. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) sieht darin eine Entscheidung „für Frieden und Freiheit“. Willy Brandt warnt, der Graben zwischen Ost und West sei nun tiefer als je zuvor.
Was niemand ahnen kann: Vier Jahre später unterschreiben der sowjetische Parteichef Michael Gorbatschow und der „Kalte Krieger“ Ronald Reagan einen Vertrag über die vollständige Vernichtung atomarer Mittelstreckenwaffen. Es beginnt eine lange Phase der Entspannung. Ist die jetzt vorbei?
Frieden oder Krieg -- wohin führt die Rüstung?
Während die Friedensbewegung der 1980-er Jahre vor allem eine Initiative von jungen Menschen war, warnen heute eher die Älteren vor einem Rückfall in die Zeit des Kalten Krieges.
Das Argument, der Nato-Doppelbeschluss habe gewirkt und schließlich Abrüstung herbeigeführt, sollte kein Maßstab sein bei der Frage, ob neue Marschflugkörper die richtige Antwort seien auf die heutige russische Bedrohung, meint Joachim Schramm (65) von der „Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen“. „Das ist keine Garantie dafür, dass es heute wieder klappt. Es ist ein Spiel mit dem Feuer“, sagt der Wittener.
Der ebenso friedensbewegte Wolfgang Dominik (79) aus Bochum, der im Auftrag der Evangelischen Kirche von Westfalen lange Kriegsdienstverweigerer beraten hat, konnte sich nie mit dem Satz „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“ anfreunden. Er befürchtet sogar, dass wir uns in einer „dramatischen Vorkriegszeit“ befinden.
Die Bundesregierung wirbt für den Beschluss der Nato-Marschflugkörper in Deutschland zu stationieren und versucht, die Befürchtungen zu zersteuen. Vizekanzler Robert Habeck sagte der „Neuen Westfälischen“: „Wir müssen die Wehrhaftigkeit steigern, weil wir in einer sehr bedrohlichen Zeit leben, die anders ist als in den 80er Jahren. Deshalb verbietet sich Naivität.“ Bei den Demonstrationen gegen die Nato-Doppelbeschlüsse 1981 habe Kalter Krieg geherrscht. „Jetzt erleben wir in der Ukraine einen heißen Krieg, weil dort geschossen und gestorben wird.“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte zur Frage, ob er mit größerem Widerstand gegen die Rückkehr solcher weitreichenden Waffen auch aus seiner eigenen Partei rechne: „Diese Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung.“ (mit dpa)